Deutscher Alltag:Man täuscht sich

Da ist man zu Gast bei einem der ganz großen Abende der jüngeren Musikgeschichte - und merkt es nicht, weil man nur Scheppern hört. Mit der Kunst und der Kritik ist das so eine Sache.

Kurt Kister

Neulich in der Philharmonie. Man sitzt und hört, noch dazu für einen guten Zweck, Beethovens Neunte. Hervorragende Musiker aus den drei bedeutenden Münchner Orchestern, ein weltberühmter Dirigent, ein gewaltiger Chor, gemischt aus wiederum allen drei exzellenten Münchner Chören. Kann es etwas Besseres geben? Eigentlich nicht.

Zubin Mehta

Scheppern oder nicht scheppern, das ist hier die Frage: Zubin Mehta bei der Arbeit.

(Foto: AP/Hans Punz)

Aber: Klingt das gerade nicht leicht blechern, tobt da nicht vordergründige Lautstärke, wo man doch, zumal als Gemütsdeutscher im vierten Satz der Neunten, Sternenpathos und vollen, tiefen Klang erwartet? Nein, das kann nicht sein, man täuscht sich.

Doch, es scheppert. Wahrscheinlich liegt es am Konzertsaal, dem schrecklichen Gasteig, und vermutlich sitzt man auf dem einzigen Platz, Block I, Reihe 3, Stuhl 37, wo sich sämtliche mögliche Scheppertöne überschneiden, selbst solche, die es eigentlich nicht gibt. Bei Zubin Mehta scheppert es nicht.

Aber, ja, jetzt eindeutig, die Sänger - "Froide, Froihohohohoide" - liegen im Wettstreit mit den Choristen - "FROIDE! FROIDE! FROIDE!" - und den zu allem entschlossenen Geigern. Pathos baut sich auf, eine Welle rollt heran - und es scheppert wieder.

Als alles vorbei ist, gibt es Riesenbeifall. Na ja, denkt man sich, da hat man sich wohl getäuscht. Im Hinausgehen fragt der Stuhlnachbar: "Fanden Sie nicht auch, dass es manchmal etwas oberflächlich geklungen hat?"

Tags darauf die Kritiken. Nun hat Georg Kreisler schon alles Nötige über Musikkritiker gesungen ("es gehört zu meinen Pflichten, Schönes zu vernichten als Musikkritiker"). Aber die Kritiker haben nicht nur kein Scheppern gehört an jenem Abend, sondern sie werfen sich Dirigent und Musikern nachgerade zu Füßen, was ein schwieriges Sprachbild ist angesichts der vielen Füße wegen der großen Besetzung der Neunten. Kein Kritiker ist so dick oder so hoch gewachsen, dass er mehr als sieben Paar Füße auf einmal im Kotau abdecken kann, selbst wenn er sich längs vor sie wirft.

Liest man also die Kritiken, dann erfährt man, dass man einen der ganz großen Abende der jüngeren Musikgeschichte erlebt hat. Ja, es war beeindruckend. Meistens. Im ersten Satz zum Beispiel. Und dann erinnert man sich an jenes wahnsinnig dicke Buch von einem wahnsinnig unglücklichen Amerikaner, das alle Kritiker wahnsinnig gut fanden. Trotzdem legte man es nach 80 Seiten weg, weil es einem wahnsinnig auf die Nerven ging.

Mit der Kunst im weitesten Sinne ist es manchmal so, dass man ihr umso näher kommt, je weniger man von ihr versteht oder zu verstehen glaubt. Auch bei Zubin Mehta kann es scheppern. Zumal im Gasteig.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: