Deutscher Alltag:Abteilungsklima-Störer

Besonders schwer trifft es einen, wenn man nicht zu den Menschen gehört, die so sein wollen wie andere Menschen, und es trotzdem sein muss. Zum Beispiel im Urlaub. Oder in der Kantine.

Kurt Kister

Doch, es gibt Menschen, die möchten so sein wie ganz viele andere Menschen auch. Zum Beispiel gehen in der Bundesligasaison jede Menge Leute ins Fußballstadion, die sich alle sonderbare Schals umwinden, lächerliche Mützen aufsetzen oder Tröten herumschleppen. Fliesenleger und Professoren tun das, Polizisten und Pastoren. Sie alle amalgamieren zu einer rot-weißen oder schwarz-gelben Masse, in der Individualität für neunzig Minuten zugunsten einer lauten, wogenden Gesamtexistenz, einer Art La-Ola-Schwarm, verschwindet.

KANTINENESSEN

Hmm, lecker: Geht man nicht zum Essen mit in die Kantine, gilt man als unkommunikativer Zilch.

(Foto: DDP)

Ähnlich individualitätsauflösend, wenn auch nicht ganz so laut und mit weniger Teilnehmern, sind andere Gemeinschaftsaktivitäten wie etwa das mittägliche Gruppenessen in der Kantine.

Nun weiß nicht nur die Unternehmensberaterin mit den stahlblauen Augen, dass gemeinschaftliches Essen einer ganzen Abteilung schon aus Effizienzgründen verwerflich ist. Hinzu kommt der Gruppendruck, der entsteht wenn die leicht feldwebelhafte Sekretärin in der Bürotür steht und: "ESSEN!" sagt. ESSEN heißt: Los jetzt, unkommunikativer Zilch, wir marschieren alle hinunter zu Leberkäs mit Kartoffelsalat.

Geht man mit, muss man freundlich sein und über diese Witze des Kollegen M. lachen, der über ein unendliches Arsenal von Herr-Müller-ist-gestorben-und-Petrus-öffnet-ihm-die-Himmelstür-Scherzen gebietet. Geht man nicht zum Essen mit, gilt man als unkommunikativer Zilch und Abteilungsklimastörer.

Besonders schwer trifft es einen, wenn man nicht zu den Menschen gehört, die so sein wollen wie andere Menschen, und es trotzdem sein muss. Zum Beispiel wenn man verreist. Wenn man verreist, ist man Tourist. Tourist aber will man auf keinen Fall sein, höchstens Reisender. Man möchte fast so aussehen wie ein Einheimischer oder zumindest wie ein Deutscher, der schon seit 20 Jahren dieses rustico bei San Gimignano bewohnt.

Dann aber schaut man sein Spiegelbild in einem Schaufenster in San Gimignano an, wo sich ganz viele Reisende drängen und man sieht - einen Touristen: kurzärmeliges Polo-Shirt, weite Leinenhosen, eine clooneyhafte Sonnenbrille und, irgendwo muss man ja die Papiere und den Fotoapparat unterbringen, dieses blöde Lederrucksäcklein.

Ecce homo. Man ist ein Tourist, der sich, wenigstens keine Sandalen und keinen Stadtplan tragend, einen Rest an Eigenexistenz erhalten hat. Man bemüht sich so sehr, individuell zu bleiben und nicht wieder in das Touristen-Wildschweinsalami-Geschäft zu gehen. Stattdessen schlüpft man, fast unbeobachtet, in die Touristen-Enoteca. Wenn man wieder zu Hause ist, könnte man eigentlich auch mit der Abteilung ESSEN gehen.

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