Deutsche Sprache:Wort des Jahres: Warum es nicht beim "Postfaktischen" bleiben darf

Der Begriff "postfaktisch" fasst eine gesellschaftliche Veränderung, die vielen Angst macht, in ein Wort. Und sollte uns zum Handeln bewegen.

Kommentar von Carolin Gasteiger

Viele verwenden ihn, oft reflexartig. Kaum eine Diskussion über Donald Trump, den Brexit oder die AfD, in der dieser Begriff nicht fällt. Kaum eine politische Analyse, in der die Ursache vieler aktueller Probleme nicht diesem Wort zugeschrieben wird. Selbst die Bundeskanzlerin sprach jüngst vom "postfaktischen Zeitalter".

"Postfaktisch" ist darum mehr als würdig, zum Wort des Jahres gekürt zu werden. Wie schon im vergangenen Jahr - 2015 war es "Flüchtlinge" - wählte die Gesellschaft für Deutsche Sprache lieber einen Ausdruck aus der gesellschaftlichen Debatte, als dass sie sprachliche Originalität oder gar Witz kürte. Zum Vergleich: Österreich hat sich in diesem Jahr für den Bandwurm "Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung" entschieden. Das deutsche Gremium aber wählt Wörter, "die den öffentlichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet haben".

Der Ausdruck füllt eine sprachliche Lücke, die wir bis vor kurzem gar nicht bemerkt haben. Er beschreibt einen Zustand, in dem subjektives Empfinden wichtiger ist als sachliche Argumente. Ja, in dem es vielen Menschen egal ist, ob man nun mit korrekten Fakten hantiert oder nicht. Es sind falsche Behauptungen, oft eingeleitet mit dem Satz "Man wird ja wohl noch sagen dürfen". Wie es die Jury formuliert, komme es darauf an, "dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. (...) Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der "gefühlten Wahrheit" führt im 'postfaktischen Zeitalter' zum Erfolg." Fühlen statt Fakten sozusagen.

Viele klammern sich an diesen Begriff: Er fasst eine gesellschaftliche Veränderung, die vielen Angst macht, in ein Wort. Auch wenn das Wort an sich gar nicht neu ist: Es tauchte bereits 1992 in der - britischen - Umgangssprache auf, wie der mit dem Duden vergleichbare Verlag Oxford Dictionairies kürzlich mitteilte, als er postfaktisch ("post-truth") sogar zum Internationalen Wort des Jahres erklärte.

Das Problem daran: Viele Menschen verwenden den Begriff nicht nur reflexartig, sondern vor allem resignativ. Sich aber mit dem Postfaktischen als Zustandsbeschreibung abzufinden, wäre fatal. Angesichts emotionaler Debatten, populistischer Äußerungen oder Lügen gilt es vielmehr, falsche Behauptungen als solche zu entlarven und Argumente in den Vordergrund zu rücken.

Auch wenn das vielen nicht recht sein mag, sollten diejenigen, die postfaktisch agieren, in Talkshows sitzen und ihre falschen Ansichten propagieren: Man sollte sie zur Rede stellen, worauf ihre Behauptungen basieren und wie genau sie gemeint sind. Viele entlarven sich von selbst. Tweets von Politikern wie Donald Trump oder Beppe Grillo sollten nicht für bare Münze genommen, sondern hinterfragt werden. Wenn Pegidisten ihre Lügen auf Demonstrationen verbreiten, sollten diese auf Gegenveranstaltungen entlarvt werden.

Den Ausdruck postfaktisch nicht nur deskriptiv zu verwenden, sondern als Handlungsaufforderung zu verstehen, wird schwer genug. Aber wir müssen es versuchen. Andernfalls droht, was Evelyn Roll in ihrem SZ-Essay schildert: das postdemokratische Zeitalter.

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