Deutsche Literatur:Und die Möwen sagten: Lasst euch Zeit!

Lesezeit: 2 min

Harry Potter im Gepäck und ein entzückendes Atomkraftwerk vor Augen: Das englische Reisetagebuch der Dichterin Sarah Kirsch führt von Norddeutschland nach Cornwall und Devon.

Von Nico Bleutge

Am 1. September 2000 ist Sarah Kirsch in Torquay unterwegs, dem Geburtsort von Agatha Christie. Mehr noch als die zahllosen Hügel der Stadt haben es ihr die Museen angetan, vor allem das berühmte Torquay Museum. Ägyptische Abteilung, Höhlenbären, Insekten ("wo es lebende wandelnde Blätter gab") - sie macht alles mit. "Bis man schließlich in die Agatha Christie-Etage dann kam. Sämtliche Buchausgaben, wirklich sehr viele. Fotos, Devotionalien. Fotos vom Rollschuhklub . . . Ganz benebelt von denen Krimis."

So ähnlich wie der Autorin im Museum mag es einem als Leser mit Sarah Kirsch selbst ergehen. Fast ein Dutzend Bücher mit Tagebuchprosa sind bis heute neben ihren zahlreichen Gedichtausgaben erschienen, viele noch zu Lebzeiten der Autorin, ein Band wurde bereits posthum veröffentlicht. Immer wieder führte Sarah Kirsch Tagebuch, sei es in ihrem Wohnort Tielenhemme an der Eider, sei es unterwegs auf Reisen. So hat sie auch zu jenen zwei Wochen, die sie im August und September 2000 gemeinsam mit ihrem Sohn in England war, ein Tagebuch angefertigt. Oder in ihren Worten: "einen Journaler von der letzten britanischen Inseltour".

Es war ihre sechste Reise auf die Insel, nach einigen Touren durch Swansea oder den Süden Englands zog es sie diesmal nach Cornwall und Devon. Doch so eigen die Route klingt, Sarah Kirschs Sprache ist jene, die sie auch in den anderen Tagebüchern verwendet. Der Mittwoch ist hier ein "Mistwoch", der September "Septembrius", selbst die pseudoenglischen Einsprengsel hat man "really" schon mehrfach gelesen. Und so sitzt sie in der Schiffskabine über den Brechern - oder in kleinen Hotels am Schreibsekretär, schaut über Lavendel und Fuchsien hinweg in den Garten und freut sich darüber, dass man auf dem Zimmer stets einen Wasserkocher hat, um sich schnell einen Tee zu machen oder einen "wunderbaren Koffie".

Ansonsten sorgt der Regen immer wieder für gepflegte Langeweile. Wie gut, dass es den englischen Radiosender "Classic FM" gibt, wo man schon früh am Morgen die "Moldau" oder "Chopinski" hören kann. Wenn sie nicht gerade notiert, Musik hört (gerne auch beides zusammen) oder durch die englischen Städtchen streift, nimmt sich Sarah Kirsch Zeit zum Lesen. Reiselektüre: Harry Potter und der englische "Naturdichter" Edward Thomas.

Ausgehend von den Naturgedichten gelingen ihr anregende kleine Szenen. Etwa über die Bootsfahrt zu einer Insel: "Wir kamen gerade noch durch! Aber das Wasser flog schon über die Steine, Spritzerken, die riefen ,Beeilt euch!' Und die Möwen sagten: ,Lasst euch Zeit!'" Wo sie die Landschaft beobachtet und ihre Erlebnisse in ironisch gefärbte Sätze packt, lässt Kirsch den Leser etwas sehen. Hier die "asphaltgrauschwarze" See, dort das "entzückende Atomkraftwerk Brunsbüttel". Und immer wieder vermischen sich die Bilder mit den Ideen im Kopf: "Hin & wieder steckte ein Kormoran den Schnorchel aus dem Wasser. Wunderbarste Fregattvögel flogen, wenn ich die See und diese Fregattvögel in den Lüften hab, so haut es mir nahezu um."

Sarah Kirsch: Ænglisch. Prosa. Mit einem Nachwort von Frank Trende. DVA, München 2015. 96 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: DVA)

Den Leser allerdings haut nicht alles um in diesem englischen Journaler. "Ja, so isses alles gewesen", notiert Kirsch einmal. "Und mir fällt immer was uffzuschreiben ein." Die Frage indes, ob man auch alles aufschreiben muss, stellt sich Sarah Kirsch eher selten. So hält sie noch die letzte Promenadenpalme und das unscheinbarste Fischbrötchen fest. Und alles, Strand wie Sardine, ist oft "hübsch" und "herrlich" und "wunderbar". Da geht es dann dem Leser wie der Autorin, wenn sie wieder einmal zu früh wach ist: "Mal schaun, wie icke mir die Zeit hier vertreib." Zum Glück steckt bald schon der nächste Kormoran seinen Schnorchel aus dem Wasser. Vielleicht ist es am angenehmsten, die faksimilierten Seiten und beigefügten Fotos anzusehen. Oder auf das neueste Tagebuch zu warten. Nach den "Märzveilchen" und dem "Juninovember" kommt der "Kirschwinter" bestimmt bald.

© SZ vom 20.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: