"Ein Mensch brennt" von Nicol Ljubić:Im Deutschen Herbst verhärten sich die Fronten

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Schwerbewaffnete Polizisten suchen im Rahmen einer Ringfahndung nach den Mördern von Hanns-Martin Schleyer.

(Foto: imago/Sven Simon)

1977 übergießt sich Hartmut Gründler in Hamburg mit Benzin und zündet sich an - aus Protest gegen die Atomkraft. Der Autor Nicol Ljubić hat daraus einen Roman gemacht. Tief deutsch und beeindruckend.

Von Hans-Peter Kunisch

Als sich der siebenundvierzig Jahre alte Hartmut Gründler am 16. November 1977 vor der Hamburger Petrikirche mit Benzin übergießt und anzündet, um vor den Gefahren der Atomenergie zu warnen, weiß noch keiner von Tschernobyl oder gar von Fukushima. Der Glaube an die Technik ist, bis weit in die SPD hinein, intakt. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt hält Leute wie Hartmut Gründler für "grüne Spinner", und noch als Gründler nach seiner Aktion im Krankenhaus im Sterben liegt, spricht der Kanzler in seiner Rede beim parallel stattfindenden SPD-Parteitag nur von irregeleiteten "Gutmeinenden", die Arbeitsplätze gefährdeten. Auch Gründler bleibt bei seiner Haltung. Er bittet darum, Schmidts Buch "Als Christ in der politischen Entscheidung" auf seinen Sarg zu nageln. Was geschieht.

Heute ginge die spektakuläre Geschichte von Hartmut Gründler um die Welt. Damals berichten Medien wie der Spiegel, der Stern, die Zeit nur sehr spärlich. Die Süddeutsche Zeitung bringt eine knappe Meldung und lehnt, so Nicol Ljubić in seinem Roman "Ein Mensch brennt", den Druck der Todesanzeige ab.

Schnell merkt der junge Hanno, dass der neue Mieter im Souterrain anders tickt

Ljubićs Buch versetzt seine Leser in eine seltsam ferne Zeit. Nicht nur, weil es in allem, was Hartmut Gründler angeht, gut recherchiert ist. Es trifft den Ton der Verhärtung zwischen den Fronten, zeigt den Willen zur Konfrontation, der den Deutschen Herbst bestimmte. Und berichtet aus einer Perspektive, in der eine Distanz zum Geschehen enthalten ist. Der vierundvierzigjährige Ich-Erzähler Hanno hat den Pfarrerssohn und Aktivisten Gründler in den Siebzigerjahren kennengelernt, als er selber ein neunjähriger Junge war. Schnell merkt Hanno, dass der neue Mieter im Souterrain des Tübinger Familienhauses "anders" tickt. Gründler nimmt den Wein und die Begrüßungszigarre des Vaters nicht an. Er trinke keinen Alkohol, rauche nicht.

Geschickt verbindet Ljubić die Sicht eines durch die damaligen Geschehnisse noch heute irritierten Erzählers, der anschaulich auf seine eigene Naivität zurückblickt, mit der Darstellung der schleichenden Zerstörung der Gemeinschaft seiner Eltern, die bald nach dem Einzug Gründlers beginnt. Die Mutter Hannos, eine Lehrerin, ist für Gründlers gewaltfreies Anliegen des "Lebensschutzes" empfänglich. Sie sieht in seiner Leidenschaft für die Bekanntmachung der Gefahren der "Endlagerung" fasziniert die Möglichkeit einer Existenz jenseits von Sockenstopfen und Schulheftekorrigieren.

Der Vater, ein mittelständischer Unternehmer, gutmütiger Lebensgenießer und Autofan (Citroën DS), toleriert den asketischen Gründler mit skeptischem Spott. Doch der Einfluss des Aktivisten auf die Mutter wächst. Wahrscheinlich ohne dass die beiden je ein Verhältnis beginnen. Gerade, dass es Hartmut ausschließlich um die Sache geht, zieht die Mutter an.

Der freundliche Vater Hannos taugt nicht zum kapitalistischen Feindbild, ist aber für die spannungsreiche Ausgewogenheit des Romans wichtig. Es ist die laxe Selbstzufriedenheit des gelassenen Gemütsmenschen, die seine Frau zum Seitenwechsel provoziert. Und sie lässt im Kontrast Gründlers Konsequenz, die sie ironisch kommentiert, umso deutlicher hervortreten. Der junge Hanno wiederum ist lieber beim Vater, weil er spürt, dass von Gründler und der Mutter Kräfte ausgehen, die seine Familie auseinandertreiben. Vater und Sohn sehen Western und rasen mit dem Auto, der "Déesse", aber sie können die Folgeerscheinungen von Gründlers Entschlossenheit nicht bremsen.

Leseprobe

Ljubićs Sprache ist - der erzählten Kindheit gemäß - einfach, schnörkellos. Eben dadurch zieht sie in ihren Bann. Ihre Geheimnisse entwickelt sie aus den Zusammenhängen, die der Junge nur halb versteht. Überzeugend gaukelt sie auch den authentischen Ausdruck der Gefühle und Gedanken des älter gewordenen Hanno vor, den seine verstorbene Mutter mit der Hinterlassenschaft ihres privaten Hartmut-Gründler-Archivs beglückt hat. Der erwachsene Hanno soll ihren letzten Willen umsetzen, die Erinnerung an Gründler und seine "Opfer" wachhalten.

Auch der Spannungsaufbau gelingt. Erst allmählich verrät Ljubic, wie es, über Hungerstreiks nach Gandhis Vorbild und ein tragikomisches Anketten am Kölner Dom, zur weiteren Radikalisierung und Selbstverbrennung nach dem Muster vietnamesischer Mönche und des Tschechen Jan Palach kommt, um die gleichgültige Öffentlichkeit wachzurütteln.

Anfangs steht Gründler in seinem Kampf gegen die sprachliche Verschleierung der Risiken der Atomkraft positiv da. Der reale Gründler hat, etwa in Rowohlts Literaturmagazin 8, "Die Sprache des Großen Bruders", tatsächlich darüber geschrieben. Aber dann werden die Reserven des erwachsenen Hanno gegen Gründler sichtbar. Was er nach Gründlers Revival anlässlich von Fukushima von der triumphierenden Mutter erfährt, befremdet ihn. Der Umschlagspunkt von Irritation in Abscheu ist erreicht, als Hanno von ihr erfährt, dass Gründler sie zur gemeinsamen Selbstverbrennung anstiften wollte. Nicht, weil er vergessen hatte, dass sie Mutter war - sondern, weil er damit rechnete, dass die Selbstverbrennung einer Mutter mehr Aufsehen erregen würde. Klar wird schließlich auch, dass die Mutter bis zu ihrem Tod von der "Schuld" umgetrieben wurde, damals "Nein" gesagt zu haben, wegen Hanno. Aus gewöhnlich-privaten Gründen hat sie auf ihr Opfer für die Menschheit verzichtet.

Den Familienroman, in den Ljubić die Geschichte Gründlers einbettet, hat er frei konstruiert

Im Buch heißt es, alle Figuren außer Gründler und den Politikern seien Fiktion. Aber die Widmung des Romans an Wilfried Hüfler gibt einen guten Hinweis. Hüfler, er war 1980 Mitbegründer der Grünen, starb 2015 im Alter von 83 Jahren. Im Nachruf der Südwestpresse konnte man lesen, dass der pensionierte Lehrer in seinen letzten Jahren an einer Biografie des von ihm unterstützten und bewunderten Gründler schrieb. Ljubić, der auffällig häufig erwähnt, dass Hannos Mutter mit einem Journalisten gesprochen habe, der Gründlers Geschichte aufschreiben sollte, stattet die Figur der Mutter mit Anklängen an Wilfried Hüfler aus. Doch den Familienroman, in den er die Geschichte Gründlers einbettet, hat er frei konstruiert.

"Ein Mensch brennt" ist eine beeindruckend fugenlose Verwandlung journalistischer Recherche in Literatur. Mit "Meeresstille", einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Krieg, stand Nicol Ljubić, der 1971 als Sohn einer Deutschen und eines Kroaten in Zagreb geboren wurde, 2010 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Der tief deutsche Roman "Ein Mensch brennt" ist sein bisher bester.

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