Deutsche Literatur:Beipackzettels Traum

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Im Auftaktband der ersten Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Ingeborg Bachmann siegt das Leben über die Kunst.

Von Willi Winkler

Haben Sie ein Bild der Bachmann? Wie sieht sie aus?" schreibt der Schriftsteller Bruno Brehm Anfang 1957 an seinen Verleger Klaus Piper und weiß die Kollegin für ihr Gedicht "Erklär mir, Liebe" gar nicht genug zu preisen: "Wie groß werden große weibliche Gedichte, weil der ganze Körper mitdichtet!" Der Verleger lässt das Ruhmesblatt abschreiben und an seine junge, damals dreißig Jahre alte Autorin weiterleiten. Ingeborg Bachmann musste, wie sie zuvor an Wolfgang Hildesheimer schrieb, schwer an dem "Bissen Brehm" schlucken, der 1939 aus der Hand von Joseph Goebbels den Nationalen Buchpreis erhalten hatte, aber sie verfügte eben über ungewöhnliche Verehrer.

Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, der nicht bloß der Gottseibeiuns der Nachkriegsjahrzehnte, sondern ein gebildeter Mann war, zitierte im Jahr 1961 - selbstverständlich mit dem politischen Unterton, wie er zum Atomzeitalter passte - ihr Gedicht "Die gestundete Zeit": "Es kommen härtere Tage". Thomas Bernhard, der Frauen sonst nur ertrug, wenn sie erheblich älter waren als er und auch sonst ungefährlich, feierte die als "Maria" kaum verkleidete "große Künstlerin" als "meine Dichterin". Groß sei, was sie schreibe, sagt Franz-Josef Murau in Bernhards Roman "Auslöschung", größer "als alles andere von allen anderen Dichterinnen". Sie ist es, im Buch jedenfalls, durch die Murau, sein Alter Ego, zum "Auslöscher" wird, zu Thomas Bernhard.

So wurde es ihr Schicksal, im Lob und Preis der Männer aufzugehen. Als umgockelter Mittelpunkt der von ehemaligen Soldaten geprägten Gruppe 47, mit dem Büchner-Preis und einer Spiegel-Titelgeschichte ausgezeichnet, war die Lyrikerin nicht bloß ein Star, sondern eine Frau, die sich die Männer aussuchen konnte: Hans Weigel, Paul Celan, Hans Werner Henze, Jacob Taubes, Max Frisch. Sie schliefen aber nicht nur mit ihr, sondern förderten sie auch. Trotzdem wurde sie für die Nachwelt das Damenopfer. Als sie Frischs heute doch recht vergessenen Roman "Mein Name sei Gantenbein" lesen durfte, freute sie sich über die "Größe des Buchs", das ihr "bleiben" werde, "weil es zugleich alles ist, was ich noch zu geben habe". Selbstlos, ganz die Muse, geht es weiter: "Und es wird meine Tröstung sein, denn so erkenne ich zuletzt, dass die Jahre gut für Dich waren, fruchtbar für Dich waren." Für sie waren sie bald furchtbar. Sie lebte neben dem Weltruhm Max Frischs und konnte nicht mehr schreiben.

Im Jahr 1962 trennte er sich von ihr, die alte Geschichte: jünger, weniger kompliziert. Für Ingeborg Bachmann war das eine Katastrophe, ein Lebensabsturz, der ihr aber das Überleben als Schmerzensmadonna in einem rauchgläsernen Schneewittchensarg sicherte. Bachmanns Leben und Schreiben, ihr Scheitern, ihr Neuanfang, ihr Tod brachten unzählige Frauenstudien hervor, und der Körper musste ebenso dabei sein wie der stärkere Mann, der als Schriftsteller über Frauen geht wie sein soldatischer Vorfahr über Leichen.

Bereits in der Erzählung "Das dreißigste Jahr" (1961) ist die Rede von der "ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist". Ihres wurde bei allem Diskretionsbedürfnis so öffentlich geführt, dass alle Welt wissen konnte, wie sehr sie die Trennung von Frisch nicht bloß kränkte. Jahrzehnte nach ihrem Tod in Rom im Herbst 1973 kehrt Ingeborg Bachmann jetzt wieder, als großes Fragment und Teil einer vielbändigen Werkausgabe, die sich bindestrichsparend als "Salzburger Bachmann Edition" bezeichnet. Sie ist ein Gemeinschaftsunternehmen der Verlage Piper und Suhrkamp und wird editionsphilologisch betreut von Hans Höller und Irene Fußl.

Der Auftaktband enthält eine fürchterliche Krankengeschichte, literarisch nicht bedeutungslos, aber vor allem: ganz und gar fürchterlich. "Wenn der Traum anfängt, weiß ich schon, daß ich verrückt bin", beginnt eine Notiz, die wahrscheinlich von Anfang 1966 stammt. Sie nennt, was sie erlebt, nach einem italienischen Roman "Male oscuro", die dunkle Krankheit, eine Depression, die sich bis zur Psychose steigert und zum Selbstmordversuch.

Auf den Zusammenbruch folgt mutmaßlich eine Gebärmutterentfernung; fruchtbar ist nurmehr Max Frisch mit seinem Roman, in den sie eingegangen ist. Elektroschocks drohen, eine neue Therapie hilft, eine gewaltsame Angstentziehungskur ausgerechnet bei einem Schüler von Konrad Lorenz.

Fast immer geht es um Max Frisch, es geht um dessen neue Frau, es geht um Bachmanns Existenz als Schriftstellerin. "Herr F. hat mich ins Gefängnis gebracht", in die verschärfte Version des Krankenhauses, aber es muss natürlich Herr F., Max Frisch also, sein, der ihr Unglück verursachte. Trotzdem: "Ich bedaure das Gefängnis nicht, im Gegenteil, ich finde mich leicht ab damit, aber ich bin vernichtet, weil ich nicht schreiben darf." Dauernd rede sie auf das Personal ein, das glaube, sie wehre sich gegen die Haft - "und ich will bloß sagen, daß mir das nichts ausmacht, aber ich möchte Papier und Schreiben".

Aber ging sie nicht zugrunde, mit Zigaretten und eimerweise eingeworfenen Tabletten?

Das Schreiben muss sie erst wieder erlernen, und wie schmerzhaft der Prozess war, der vermutlich erst mit dem Tod ein Ende fand, wird durch die hier zusammengetragenen Aufzeichnungen überdeutlich. Ob das alles wirklich veröffentlicht werden musste, ist für die Herausgeber eine Frage, die sie offenbar so heftig umtreibt, dass sie einen gewagten dialektischen Sprung probieren: "Ja, die hier vorgelegten Texte verstoßen gegen Schweigegebote, die den kranken Menschen schützen sollen, von denen sich der kranke Mensch aber auch umstellt sieht". Andererseits, so geht das Argument unbelegt weiter, wäre Ingeborg Bachmann "an diesem Schweigen und einer falsch verstandenen Diskretion fast zugrunde gegangen". Aber ging sie nicht zugrunde mit Zigaretten und eimerweise eingeworfenen Tabletten?

Der philologische Apparat ist sogar vorbildlich, alle Kreuz- und Querbezüge sind herausgearbeitet, nur das Werk oder sagen wir es gleich: die Kunst verschwindet hinter all den Fragmenten. Das Leben als Krankheit ist stärker. Wenig erfährt man dennoch in dieser Edition über den Hintergrund. Dass Ingeborg Bachmann in den Jahren der hier dokumentierten Krankheit den Georg Büchner-Preis erhielt, dass sie sich im Wahlkontor deutscher Schriftsteller engagierte, vor allem dass sie funktionierte, dass es der Dichterin am Ende sogar gelang, ihre Hofmannsthal'sche Sprachkrise zu überwinden und ihre Rettung in der Prosa zu finden (nur um dann von Marcel Reich-Ranicki altmännerweise als "gefallene Lyrikerin" denunziert zu werden) - das alles erschließt sich in diesem Zettelgestöber nicht.

Wenn einmal alle Zettelchen, alle Skizzen, Briefe, Arztrechnungen und Rezepte zusammengetragen, ausgewertet und auf ihre Verbindung zum schmalen Werk von Ingeborg Bachmann abgetastet sind, in zwanzig oder dreißig weiteren vorbildlich editierten Bänden, wird die Schmerzensmadonna über einen monumentalen Sarkophag verfügen, und irgendwo tief drinnen bleibt doch das Rätsel. Es heißt: "Erklär mir, Liebe".

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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