Deutsche Literatur:Auf dem Dachboden

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Leben und Denken in zwei Sprachen: Georges-Arthur Goldschmidt.

(Foto: Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif)

Die "Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt", geschrieben 1946 von Arthur Goldschmidt, dem Vater des Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt, verwandelt sich in eine Novelle.

Von Peter Handke

Dr. Arthur Goldschmidt, 1873 - 1947, Richter und Maler in Hamburg/Reinbek, von 1942 bis 1945 interniert in Theresienstadt und Vater von Georges-Arthur Goldschmidt, verfasste 1946 einen Bericht über seine Tätigkeit als protestantischer Seelsorger in Theresienstadt.

Diese Chronik von drei Jahren, 1942 - 1945, zu den in Theresienstadt internierten Juden und "Juden" - Anführungszeichen vom Chronisten Arthur Goldschmidt, vormals Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, ab 1933 nur noch "Maler" in Reinbek - hebt an wie eine Novelle aus einem anderen Jahrhundert: "Theresienstadt liegt an der Eger, unweit von Leitmeritz an der Elbe, in einer fruchtbaren Landschaft Böhmens. Es ist eine von Kaiser Josef II. auf geometrischem Grundriß erbaute kleine Festungsstadt, in ihrer alten Anlage umschlossen von Festungswällen und Gräben ..."

Diese "Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt", so Arthur Goldschmidts Titel seiner Chronik, verwandelt sich beim Lesen, unter der Hand, so tatsächlich wie leibhaftig in eine Novelle, und das nicht nur in dem klassischen Sinn der "unerhörten Begebenheit(en)": eine Novelle, wie es sie in der Form noch nie gegeben hat, eine unerhörte Neuigkeit; (fast) vollkommen sachlich vorgetragen, eben als Chronik einer lang zurückliegenden Begebenheit - dabei niedergeschrieben 1946, gleich im Jahr der, wie es bei Goldschmidt heißt, "Rettung und Befreiung", die "den Gedanken an die Niederlage und den Untergang Deutschlands in sich schloß", und zwar "herzbedrückend".

Der Bericht handelt von noch nie so erzählten und darum wahrhaft unerhörten Stufenleitern

Diese Theresienstadt-Geschichte erzählt demnach von Juden und "Juden": die ersteren, die große Mehrheit in der Festung, wenn überhaupt religiös, und nicht, durch "die Ereignisse" (noch so ein Goldschmidt'sches Chronikwort) übergewechselt zu einem säkularisierten Zionismus, so ein Volk der Thora, der Bundeslade, und in der Regel ohne spezielles Verständnis für das Christentum, Religion des Kreuzes - die letzteren, die "Juden" sich verstehend als Deutsche und als Christengemeinde, deren Vorstandsamt in Theresienstadt der ehemalige Jurist Goldschmidt, geboren 1873, innehatte.

Seine Vorstandschronik erzählt freilich weniger von den Begebenheiten - nach außen hin war das Vordringliche unter all den Hunderttausenden der Internierten, von Hitler mit Theresienstadt "Beschenkten", eine zu Dahindösen in Hunger an Leib und Seele verdammende Monotonie, das, besonders anfängliche, Massensterben eingeschlossen -: Arthur Goldschmidts "Novelle" handelt (ja doch, sie "handelt") von den noch nie so erzählten und darum wahrhaft unerhörten Stufenleitern, wie sie dramatisch nottaten auf kleinstem Raum, von Konflikt zu Konflikt, der Internierten untereinander ebenso wie der inneren Konflikte der Einzelperson mit sich selbst, auf dass, selbst in banger Erwartung des Weitertransports nach "Polen", "Birkenfeld" - "in Transport kommen", so die Chronistenformel - das Lebenslicht des Einzelnen und in eben dem Maße das der Gemeinde weitergetragen werde; Kernsatz: selbst an der Schwelle der "Vernichtung" nur keine Endzeitgefühle oder -gedanken, bloß nichts "Chiliastisches" - stattdessen Zuversicht, wenn nicht gar, auch auf dem Grund des gemeinsamen Schriftenlesens, "Heilsgewißheit im Hinblick auf das Letzte" ...

Eine Geschichte also vielfältiger, dem Anschein nach oft unscheinbarer, wenn nicht kümmerlicher Stufenleitern zur Selbst- oder eher Person-Erhaltung dank einer Gemeinde ist Goldschmidts Theresienstadt-Chronik, in Bildern, winzigen Bleistiftzeichnungen, aber weiter tragend in Worten und Sätzen, dank der Sprache, in dem Sinn jener mehreren, von Stufe zu Stufe scheinbar dünner und zerbrechlicher werdenden Aufgänge zu jenem Dachboden, welcher der "evangelischen Gemeinde Theresienstadt" als Versammlungsort diente: der letzte und oberste Zustieg kaum mehr als eine Art Hühnerleiter. Nicht gesagt freilich ist damit, dass solche Stufenleitern regelmäßig aufwärts führten, geschweige denn verlässlich auf ein höheres, ein all den christlichen Zwangsinsassen gemeinsames Lebenslicht. Aber sind es nicht gerade alle diese verqueren, problematischen, konfliktträchtigen Stufen, von Arthur Goldschmidt etappenweise manchmal nur angedeutet - siehe auch seinen Einleitungssatz, dass "sich die Ich-Form leider nicht ganz vermeiden ließ" -, welche mit das Unerhörte dieser "Novelle" ausmachen? So nun auch hier bloße Andeutungen, Umschreibungen und Umzirkelungen (die zugleich gehörig offen lassen sollen) ohne Interpretation, von einer Stufe zur andern den Lesern weitergegeben.

"Das Vaterland ist zum Feinde, zur 'Ferne' geworden ... das Vaterland, das uns tötete ..."

"Nichtchristen", die den Wunsch hatten, den Gottesdienst - von Goldschmidt als einem Laien geleitet, bei Protestanten, anders als bei Katholiken, möglich - mitzufeiern, waren willkommen, aber durften "am Abendmahle nicht teilnehmen". - Jeder "Wunsch nach kirchlicher Trauung" eines schon außerkirchlich bestehenden Paares wurde - vom Leiter der Gemeinde, dem Chronisten selber - abgelehnt. "Denn der Wunsch entsprach nicht einem religiösen Bedürfnis, sondern war rein opportunistisch: Es handelte sich um den übrigens nicht notwendig gewordenen Versuch, durch den Abschluß eines solchen Lebensbundes die Gefahr der Trennung durch Abtransport zu vermindern".

Unter den Tausenden der Juden ohne Anführungsstriche waren die christlichen Gemeinden "ein Fremdkörper" und konnten sich nur halten dank des "großen Entgegenkommens" der jüdischen Selbstverwaltung, und gerieten mit dieser dennoch zeitweise in Konflikt, vor allem aus Raumnot, kein Platz frei für den evangelischen und ebenso katholischen Gottesdienst, siehe dazu die Zeile aus dem Protestschreiben Goldschmidts vom 11. Oktober 1943, gerichtet an den Ältestenrat der jüdischen Mehrheit in Theresienstadt: "Wir geben zu bedenken, was das Weltgericht der Geschichte einmal über die Anklage befinden würde, daß eine soziale Gemeinschaft, die als Minderheit Kulturautonomie begehrt und gefunden hat, als Mehrheit eine solche nicht einräumen will." - Dann die Stufe der drohenden Spaltung der Gemeinde durch einen zweiten, stärker dogmenbetonten Prediger (dagegen der 1. Prediger = A. G.: "keine eigene Einstellung" - "nicht ablenken vom Wort Gottes" - "die Wirklichkeit der Verkündigung"). - Dann die Regel, im Gottesdienst, vor dem "Vaterunser", jeweils im Gebet "Deutschlands und derjenigen Führung" zu gedenken, "die zu seiner Rettung berufen sein möge ... Leider erregte das bei den Tschechen Anstoß und veranlaßte einige von ihnen fernzubleiben." Und zuletzt, wenn nicht die Mittel-, so doch eine der Hauptsäulen im Theresienstädter Lebens- und Überlebensgebetstempel, jenes von einer Raum- und Zeitstufe zur folgenden wiederholte "de profundis": "Wir waren Deutsche, wir hatten ein Vaterland gehabt. Aber unser Vaterland hatte uns ausgestoßen, uns fried- und rechtlos, 'vogelfrei' gemacht. Das Vaterland ist zum Feinde, zur 'Ferne' geworden ... das Vaterland, das uns tötete ..."

Und trotzdem dann auf zum nächsten Psalm, auf der zartesten und zerbrechlichsten aller Sprossen: "Wir wissen, daß auch das Leiden eine Gnade Gottes ist, daß unter der Gnade auch unser Auftrag steht, wenn wir wieder Deutsche unter Deutschen werden sollten: ... aufzubauen an dem inneren Deutschland, sich auswirken zu lassen, was das Leid uns an geistiger Erhöhung geschenkt hat." Und diesen "Psalm" in der Folge ergänzt und erweitert von dem kanonischen Psalm (ohne Anführungszeichen) 90 aus dem Alten Testament, mit welchem bei jeder Toteneinsegnung der Theresienstädter evangelischen Gemeinde jenes: "Vor Dir sind tausend Jahre wie ein Tag" intoniert worden ist.

Arthur Goldschmidts Bericht und Peter Handkes Essay erscheinen an diesem Mittwoch in dem Band: Patrick Suter und Barbara Mahlmann-Sauer (Hrsg.): Georges-Arthur Goldschmidt - Überqueren, überleben, übersetzen. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 312 Seiten, 24,90 Euro.

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