Deutsche Literatur:Abschied vom Helden

Deutsche Literatur: Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2015. 582 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2015. 582 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.

(Foto: verlag)

Jan Koneffke schreibt an einer Trilogie, der die Geschichte seiner Familie zugrunde liegt. Im Roman "Ein Sonntagskind" begleitet er die Vaterfigur in den Krieg und verarbeitet Briefe, die er nach dem Tod des Vaters entdeckte.

Von Ulrich Rüdenauer

Zum Dichter werde ein Mensch dadurch, schrieb Martin Walser einmal, "dass er nicht sagen darf, was er sagen möchte". Auf verschlungene Weise aber findet das Nicht-Gesagte dann doch aufs Papier und in die Welt. Das Eigentliche, weil es so schwer im Herzen wiegt, wird literarisch umkreist und umspielt, wenngleich es nie ganz gefasst werden kann.

Für die sogenannte Flakhelfer-Generation hat diese schöne Erkenntnis ihre ganz eigene Relevanz: Viele der jungen Intellektuellen, die durch ihre Bücher und ihr öffentliches Wirken in den Fünfziger- und Sechzigerjahren an der Demokratisierung der Republik entscheidenden Anteil hatten, wurden von etwas Unaussprechlichem angetrieben, von einer übermächtigen Verantwortung ebenso wie von nicht benennbarer Scham. Zwar waren sie zum Ende des Krieges zu jung gewesen, um am Aufstieg des Dritten Reichs mitgetan zu haben; alt genug waren sie aber schon, um als Jugendliche anfällig gewesen zu sein für den Hitlerwahn. Dem früheren Ich wurde mit Misstrauen begegnet. Weshalb die Entdeckung von Nazimitgliedschaften bekannter Persönlichkeiten vor einigen Jahren - von Erhard Eppler bis zu Walter Jens -, zuweilen für die Entlarvten selbst eine Überraschung war. Der 17- oder 18-Jährige war ihnen längst fremd und unheimlich geworden.

"Und es ekelte mich vor mir selber. Ich war ein Deutscher, nicht anders als sie, und an den Verbrechen beteiligt gewesen. Ich musste mich vor meinem Gewissen rechtfertigen, was mir von Tag zu Tag schwerer fiel. Das war ein Strudel, der mich in den Abgrund zog", beichtet Konrad Kannmacher in einem seltenen Moment der Offenheit. Konrad ist das "Sonntagskind", das dem neuen Roman des 1960 in Darmstadt geborenen Jan Koneffke seinen Titel gibt. Er wächst in einer brauner Gesinnung unverdächtigen Familie auf: Sein Großvater verehrt Kant, der Vater verhilft einem jüdischen Bankier zur Emigration und landet dafür ein halbes Jahr im KZ. Konrad selbst, ein ängstliches, nachdenkliches Kind, möchte allerdings nicht abseits stehen. Seine Meldung zur Waffen-SS kann der Vater zwar gerade noch verhindern, aber als 17-jähriger Soldat in einem Sonderkommando ist er im letzten Kriegsjahr noch an grauenvollen Einsätzen beteiligt. Aus dem schüchternen, von Zweifeln und Durchfall geplagten Jungen wird in wenigen Monaten ein rasender Kriegsheld, der sich das EK1 an die Brust heften darf. Seine Jugendfreunde sieht er dabei neben sich im Kampf zugrunde gehen - was ihn bis ins hohe Alter verfolgen wird, als er längst schon ein angesehener Philosoph ist, ein Linksliberaler, der Sympathien für die 68er hegt und sogar einem RAF-Mitglied Unterschlupf gewährt.

Jan Koneffke veröffentlichte 2008 den ersten Teil einer nun zur Trilogie angewachsenen pommerschen Familiengeschichte, die sich am Stammbaum des Autors orientiert. "Eine nie vergessene Geschichte" hieß dieser Roman, der von Felix Kannmacher und seinen Brüdern handelt und sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Flucht 1945 erstreckt. Besagter Konrad nun, der im neuen Buch die Hauptrolle spielt, ist dessen Neffe und dem Autor sehr nah: Koneffke hat ihn seinem Vater Gernot nachgebildet, der als Pädagogikprofessor lehrte und dem "Eine nie vergessene Geschichte" gewidmet war. Wie Péter Esterházy nach der Veröffentlichung seines Romans "Harmonia Caelestis" in "Verbesserte Ausgabe" eine Korrektur am Vaterbild vornehmen musste, nachdem er herausgefunden hatte, dass der verehrte Held der Kindheit als Spitzel tätig war, muss nun auch Jan Koneffke in seinem "Sonntagskind" den Vater in all seiner Widersprüchlichkeit zeichnen. Vor einigen Jahren erst kam der Autor - ebenso wie sein Alter Ego Lukas am Ende des Romans - in den Besitz von Briefen, die der junge Landser von der Ostfront geschrieben hatte. Kaltblütig und blutrünstig berichtet er darin von seinen Abenteuern. Mit dem als liebevoll erlebten Vater hatte dieser Briefeschreiber keine Ähnlichkeit.

Die Kriegserlebnisse sind tabu, doch als Damoklesschwert hängen sie über dem Hochschullehrer

Die Diskrepanz zwischen dem wütenden, soldatischen Jungen und dem von Scham und Schuldgefühlen beherrschten Mann bestimmt Koneffkes Bildungsroman. Er schildert die Geschichte Konrads von den Vierzigerjahren bis in die Gegenwart in einem großen epischen Bogen fast gänzlich aus dessen Perspektive. Deutlich wird so der Spalt zwischen Innen- und Außenwelt und die Getriebenheit Kannmachers, der mehrere glücklose Ehen und zahllose Liebschaften durchläuft und es vom Volksschullehrer zum Philosophiedozenten bringt. Neben dem nicht korrumpierbaren Vater Ludwig wird vor allem der ältere Philosoph Moosbach zu seinem moralischen Leitstern. Aber weder dem einen noch dem anderen darf Konrad sagen, was er eigentlich sagen möchte, seine ihn belastenden Kriegserlebnisse sind tabu. Als Damoklesschwert hängen sie allerdings fortwährend über dem erfolgreichen Hochschullehrer.

Jan Koneffke erzählt von dieser Entwicklung, ohne sie zu begradigen oder zu beschönigen, mit psychologischem und mentalitätsgeschichtlichem Gespür. Unterbrochen wird der Lauf der Dinge nur von Ausschnitten aus dem Konrad zugesprochenen, fiktiven "Geschichtenheft" - schwelgerischen Jungs-Fantasien, die Traum, Wirklichkeit und Technikeuphorie mit der Nazi-Ideologie kurzschließen und Koneffkes sprachspielerische Erfindungslust aufblitzen lassen.

"Ein Sonntagskind" ist der gelungene Roman nicht nur über eine zerrissene Vaterfigur, sondern auch über eine Generation, die sich entschlossen in die Zukunft stürzte, weil ihre Jugend und Erinnerungen gänzlich entwertet waren. Die Heimat sei futsch, sagt Konrads Jugendfreund Hartmut, kurz bevor er bei einem Himmelfahrtskommando zu Tode kommt. "Ich sage dir, dieses beschissene Morden hat deine und meine Vergangenheit restlos vernichtet."

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