Deutsche Kolonien:Vergessene Schuld

Die Deutschen scheren sich kaum um ihre Kolonialgeschichte, dabei könnte die Auseinandersetzung mit ihr interessante Hinweise parat halten - etwa auf die ohnmächtige Frage, wie Hitler möglich wurde. Nun gibt die Charité Gebeine namibischer Herero zurück. Die Opfer waren Insassen der ersten deutschen Konzentrationslager.

Tim Neshitov

Der kamerunische Prinz Kum'a Ndumbe III. hat viele Eigenschaften, darauf wird er in seiner Rede noch kommen, aber in erster Linie ist er ein Professor - und zwar einer, der zur Not auch vor leeren Stühlen spricht.

Hererofrauen in Namibia, 1939

Zwei Frauen vom Volk der Herero in der Urtracht und ein junger Mann im Jahr 1939. Eine namibische Delegation holt nun 20 Schädel von Herero und Nama aus der Sammlung der Berliner Charité ab.

(Foto: Scherl)

Er steht an einem Rednerpult der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, ein etwas untersetzter Mann Mitte sechzig mit gehäkelter Mütze und würdevoller Haltung. Von der Pultfront lächelt ein junger Goethe, davor sitzen etwa zwanzig Menschen. Der Saal ist also nicht ganz leer, aber gemessen daran, worüber Kum'a Ndumbe III. sprechen will und mit welchem Anspruch, viel zu leer.

Der Prinz eröffnete eine Tagung über das Verhältnis zwischen Deutschland und dessen einstiger Kolonie Kamerun. Der Titel seiner Rede aber lautete: "Ein Appell an die europäischen und nordamerikanischen Intellektuellen zu einem Zeitpunkt, als ihre Regierungen eine konzentrierte Aggression gegen die afrikanischen Völker im Jahr 2011 führen".

Man kann sich fragen, ob der Prinz sich in der Tür geirrt hatte, ob irgendwo nebenan die Vertreter der westlichen Intelligenzija doch versammelt waren, die sich Gedanken über die Zukunft eines Afrikas im Umbruch machen und auf die Meinung eines afrikanischen Kollegen warten.

In diesem Saal besteht das Publikum jedenfalls größtenteils aus Geschichtswissenschaftlern, die ihre eigenen Vorträge halten sollten, etwa zur Historiographie deutscher Siedlungen in Kamerun. Etwa die Hälfte der Anwesenden sind kamerunische Forscher.

Wozu also der Appell an "die europäischen und nordamerikanischen Intellektuellen"? Die meisten Anwesenden haben schließlich noch nie von dem blaublütigen Professor aus Yaunde gehört, der Hauptstadt Kameruns. Der Appell geißelt zudem den Nato-Einsatz in Libyen als "Blitzkrieg" und unterstellt den westlichen Geistesarbeitern, "ihre engagierten Federn" geliehen zu haben, "um das Unsägliche zu rechtfertigen, den Verfall von Ethik und Moral".

Je länger man der Konferenz aber folgt, desto mehr erweist sie sich als eine stimmige Veranstaltung, die viel mehr Publikum verdient hätte. Das mangelnde Interesse der Deutschen an der eigenen Kolonialgeschichte, an den Spuren, welche die "Schutzmacht" von Kaiser Wilhelm II. einst in Kamerun, Namibia oder Tansania hinterließ, ist nur bedingt verständlich.

Genauso die nonchalante Weigerung, diese Geschichte aufzuarbeiten, etwa den Massenmord an dem namibischen Volk der Herero, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Natürlich lässt die Verantwortung für den Holocaust der Nazis wenig Raum für weitere peinigende Gedenktraditionen.

Andererseits könnte die Antwort auf die ohnmächtige Frage, wie Hitler möglich wurde, zum Teil in der kolonialen Vorgeschichte liegen. Das Desinteresse an dieser Vergangenheit - in den einstigen "Schutzgebieten" spricht man von Verdrängung - macht den Vorwurf des Neokolonialismus in Afrika erst möglich. Manchmal schweift dieser Vorwurf allerdings ins Verschwörerische ab.

Wenn Kum'a Ndumbe III., eine der einflussreichen Stimmen Kameruns, den Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen mit der Zerstörung Karthagos durch die Römer im Dritten Punischen Krieg vergleicht oder den jüngsten Nato-Gipfel in Berlin mit Bismarcks Konferenz zur Aufteilung Afrikas von 1884, steckt darin jedoch mehr als der Wunsch, Aufmerksamkeit durch Provokation zu erlangen. Kum'a Ndumbe III. ist kein Buschkrieger, er machte einst Abitur in München und wurde in Frankreich in Geschichte und Germanistik promoviert und er unterrichtete jahrelang an der Freien Universität Berlin.

"Ich, Prinz der Bele Bele", sagt er und lässt den Blick langsam über die Köpfe seiner zwanzig Zuhörer schweifen, "Universitätsprofessor und Schriftsteller, der ich den Dialog gesucht, in dem ich zu Ihnen in Ihren europäischen Sprachen gesprochen habe, ich sage Ihnen nun: Es reicht!"

Spirituell aufgeladenes Erbstück

Dabei funkeln seine Augen. Der Professor ist voller Ärger und Frust, beides Gefühle, die der Objektivität nicht zuträglich sind. Er spricht von einem Libyen, in dem Wohnungen und Krankenhäuser, Schulen und Lebensmittel kostenlos gewesen seien und erwähnt mit keinem Wort den Krieg, den Gaddafi zuletzt gegen sein eigenes Volk führte.

Er spricht von einer friedlichen Côte d'Ivoire, das mit der Hilfe des Westens zerbombt worden sei und blendet den langen Bürgerkrieg aus. Von Côte d'Ivoire und Libyen schließt er auf den ganzen Kontinent und malt einen Westen an die Wand, der auf diesem Kontinent allein das Ziel verfolge, "andere Völker auf ihrem eigenen Boden auszurauben". Die politische Weltkarte von Professor Kum'a Ndumbe hat zwei Farben: Schwarz und Weiß. Aber es lohnt sich, nach Gründen zu fragen.

Der persönliche Grund befindet sich im Völkerkundemuseum in München. Es ist eine 1,50 Meter lange Bugverzierung des Königsschiffes der Bele Bele. Über dieses Volk hatte Kum'a Ndumbes Familie bereits seit Generationen geherrscht, als 1884 das Kanonenboot Olga kam. Die Bele Bele mögen bitte einen "Schutzvertrag" mit dem Deutschen Reich unterzeichnen, ließ Bismarck dem Großvater von Kum'a Ndumbe ausrichten. Der Großvater lehnte ab, woraufhin sein Palast abgebrannt und die Schiffsnase, das wichtigste Zeichen der Familienwürde, nach München verfrachtet wurde.

Seit Jahrzehnten fordert der Enkel nun von der bayerischen Landesregierung das spirituell aufgeladene Erbstück zurück. Die Bayern lehnen ab, mal mit dem Argument, die Herkunft der Bugverzierung sei nicht endgültig geklärt, mal mit der Sorge, die Kameruner könnten das Kunststück nicht sicher aufbewahren. Das bringt den Prinzen in Rage. Er spricht auf der Konferenz Französisch, aber als er von seinen Treffen mit bayerischen Beamten erzählt, rutscht er ins Deutsche ab: "Verdammt noch mal!"

Professor Kum'a Ndumbe regt sich weniger über Kaiser Wilhelms II. Politik auf, fremden Völkern "Schutzverträge" aufzuzwingen. Deutschland war nicht die erste und nicht die brutalste Kolonialmacht in Afrika. Vielmehr irritiert den Professor, wie die Deutschen heute mit dieser Vergangenheit umgehen.

Es geht ihm dabei nicht nur um seine Heimat Kamerun. Aus aktuellem Anlass empört er sich in der Pause über Deutschlands Umgang mit Namibia. Diese Woche kommt eine namibische Delegation nach Berlin, um 20 Schädel von Herero und Nama aus der Sammlung der Berliner Charité abzuholen.

Schädel von Menschen, die zwischen 1904 und 1908 starben, als die deutsche Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika herrschte. Damals starben mehr als 80.000 Menschen, vier Fünftel der Bevölkerung, Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder in die Wüste getrieben und von Wasserstellen ferngehalten, bis sie verdursteten. "Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik", schrieb der preußische Kommandeur Lothar von Trotha, der sich gerne "der große General der deutschen Soldaten" nannte: "Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen."

Entstanden sind nicht nur die ersten deutschen Konzentrationslager, sondern auch einige Schädelsammlungen. Frauen der Ermordeten mussten, so steht es im Untertitel eines Archivfotos, die Schädel mit Glasscherben "vom Fleisch befreien und versandfertig" machen, damit in Deutschland Rassenideologen wie Eugen Fischer das "Bastardvölkchen" erforschen konnten.

Einige Köpfe wurden samt Gesichtsmuskulatur in Formalin konserviert. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges, als Adolf Hitler sich noch über seine Beförderung zum Gefreiten freute, arbeiteten sich deutsche Anthropologen bereits an "Hottentottenköpfen" ab.

Tjikuua Ueriuka, ein Herero-Sprecher, der als Teil der namibischen Delegation nach Deutschland kommt, schlug versöhnliche Töne an: "Wir wollen keine Kämpfe mehr, wir wollen Dialog."

Dass ein Teil der Ahnengebeine erstmals nach Hause gebracht werde, sei schon ein großer Erfolg. Über Entschädigungen müsse man erst reden, nachdem Wissenschaftler beider Länder die Auswirkungen des Völkermordes auf die heutige - miserable - Situation der Herero und Nama erforscht hätten. Professor Kum'a Ndumbe ist nicht so versöhnlich gestimmt. Er glaubt nicht, dass diese Vergangenheit den Deutschen wirklich leidtut.

Solange in der Berliner Charité noch Hunderte nicht identifizierter Schädel liegen, und solange ein Archivar der Universität Freiburg, die über eine eigene schlecht erforschte Schädelsammlung verfügt, diese als "ein Kulturgut" bezeichnet, kann man tatsächlich kaum von Reue sprechen.

Prinz Kum'a Ndumbe III. zitiert auch Victor Hugo: "Im 19. Jahrhundert hat der Weiße aus dem Schwarzen einen Menschen gemacht", habe der Schriftsteller am 18. Mai 1879 auf einem Bankett in Paris gesagt: "Im 20. Jahrhundert wird Europa aus Afrika eine Welt machen (. . .) Gott hat den Europäern Afrika gegeben. Nehmt es!" Kum'a Ndumbe blickt auf seine 20 Zuhörer. "Unglaublich, nicht wahr?"

Sie schütteln ihre Köpfe, noch länger und noch sarkastischer als zwei Minuten davor, als der Prinz Nicolas Sarkozy zitierte: "Das Drama Afrikas", hat der französische Präsident 2007 in Dakar gesagt, "es besteht darin, dass der Afrikaner noch nicht in die Geschichte eingegangen ist."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: