Deutsche Gegenwartsliteratur:Tiefer Sturz nach Mogador

Deutsche Gegenwartsliteratur: Eine Straßenszene in Marokko, wo auch Martin Mosebachs neuester "Mogador" spielt. Ein Investmentbanker flieht nach einem Millionenbetrug dorthin.

Eine Straßenszene in Marokko, wo auch Martin Mosebachs neuester "Mogador" spielt. Ein Investmentbanker flieht nach einem Millionenbetrug dorthin.

(Foto: Regina Schmeken)

In Martin Mosebachs neuem Roman "Mogador" lässt der Autor einen Finanzjongleur nach Marokko fliehen. Es ist eine Reise zu Rätseln und Mythen.

Von Burkhard Müller

Der jähe Sturz von einer angesehenen Stellung hinab in die Tiefen von Unglück und Schande, teils durch eigene Schuld, teils durch die Verkettung der Umstände: Es ist ein altehrwürdiges Tragödienmotiv und kann auch noch dem zeitgenössischen Roman Schwung und emotionale Kraft verleihen.

Dr. Patrick Elff, ein noch "junger Mann" (etwa Ende dreißig) bekleidet eine leitende Stelle in einem Düsseldorfer Bankhaus und gerät, ohne es recht zu wollen, in einen Wust von Unterschlagung und Geldwäsche. Martin Mosebach malt genüsslich und sehr fein die Situationen solch unwiderstehlicher Verführung aus. Als Dr. Filter, Patricks farbloser und scheinbar völlig korrekter Mitarbeiter, sich erhängt hat und die Polizei mit gewissen Fragen an ihn herantritt, zieht Patrick es vor, sich durchs Fenster des Präsidiums davonzumachen und ungesäumt, mit nichts als dem Anzug und einigem Bargeld am Leib, das nächste Flugzeug nach Marokko zu besteigen.

Er will nach Mogador, das dem Roman den Titel gibt. Mogador - was für ein Name! Er klingt wie eine dunkle Variation auf das nicht allzu weit entfernte Agadir. Mosebach ignoriert den modernen Namen der Stadt, der Essaouira lautet, und konzentriert sich auf die vor sich hinbröckelnde historische Altstadt. Mogador empfiehlt sich dem Flüchtling aus zwei Gründen: Erstens kann man an diesem zu großen Teilen analphabetischen Ort problemlos untertauchen. Und zweitens ist Mogador die Heimat des sinister eleganten Grandseigneurs Pereira, der einmal geruht hat, Patrick als Mittelsmann einer dubiosen Transaktion zu benutzen, und Patrick meint daher, bei ihm was gut zu haben.

Mosebach ist, wie man aus früheren Büchern weiß, ein ausgezeichneter Reisender - und Konservativer dazu

In Mogador kann Patrick nicht viel tun außer zu warten. "Wenn man in Marokko nicht die Geduld lernte, wo sonst?" Dafür verwickelt er sich, obwohl er immer der Fremdling bleibt, allmählich in das schwer durchschaubare soziale Geflecht im riesigen verwinkelten Haus der Kupplerin, Geldverleiherin und Wahrsagerin Khadija, wo er ein Kämmerlein bewohnt. So entsteht ein fruchtbarer Zwiespalt aus Spannung und Stillstand, der es dem Autor erlaubt, in die Form des Romans Elemente des Reiseberichts einzukreuzen.

Mosebach ist, wie man aus früheren Büchern weiß, ein ausgezeichneter Reisender. Ihm kommt dabei seine konservative Grundhaltung zugute. Der Konservative will, anders als der Reaktionär (mit dem er oft verwechselt wird), keineswegs das Rad der Geschichte zurückdrehen, ebenso wenig aber, nach Art der Revolutionäre und Reformer, es voranbringen. Stattdessen hält er die Welt, wie sie ist und sich ihm darbietet, als solche für des Hinsehens wert. Er als Einziger dreht nicht am Rad; und da erblickt er Dinge, die den anderen entgangen sind, also: etwas Neues.

Marokko ist offenbar ein Land, das stark in seinen Traditionen wurzelt. Ein Reaktionär sähe hier vor allem mit kindlichem Entzücken die malerische Rückständigkeit, und ein Mensch des Fortschritts würde sich ereifern über Elend und Korruption. Mosebach hingegen macht anschaulich, dass hier ein System waltet, welches auf seine Weise nicht schlechter funktioniert als unseres auch. Natürlich ist Marokko ein Polizeistaat. Aber vom Staat erhält die Polizei nur einen Teil ihrer Besoldung, der Rest besteht aus mehr oder weniger freiwilligen Zahlungen der Bevölkerung an die einzelnen Beamten. Auf diese Weise werden sie "gebändigt durch die eigene Bestechlichkeit".

Das lebendigste Stück des Buchs bildet die Parade der Bettler von Mogador

Das ist kostengünstig für den Fiskus, knüpft ein starkes persönliches Band zwischen Bürgern und Ordnungskräften und erzeugt in seinem heiklen Gleichgewicht aus Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit genau jenes Feld, das die Macht braucht, um ihre Präsenz zu sichern.

Das lebendigste Stück des Buchs bildet die Parade der Bettler von Mogador. Um sie auf sich wirken zu lassen, muss man sich freilich zuvor von der Ansicht verabschieden, das Bettelwesen sei ein die Gesellschaft beschämender Missstand: Ein Stand ist es vielmehr, das Wort im mittelalterlichen Sinn genommen, einer, der sich in der Vielfalt seiner Typen verwirklicht.

Da gibt es den "Heiligen", dessen Augen vor Freude aufleuchten, wenn ein Passant ihm eine kleine Münze überreicht. Da gibt es den "Seeräuber", mit mehreren Mänteln übereinander quadratisch wie Heinrich der Achte, stürmisch und heftig in all seinen Aktionen, aber achtlos für das, was ihm gespendet wird. Da gibt es den "trunksüchtigen Philharmoniker" mit gesträubter Mähne, der seine Münze einhebt wie einen Tribut, die gewesene Dame im schäbigen Pelz, lässig hingelehnt, auch wenn sie keine Beine mehr hat, und viele andere.

Die Bettler sind als Gilde organisiert und haben in ihrem Auftreten etwas sehr Herrisches und Forderndes. Sie müssen ihren Schaden zeigen, sonst kriegen sie nichts. Um die Armen ist hier kein großer Glanz von innen wie bei Rilke, eher ein greller äußerer Schein. Viele Bettler sind auch Polizeispitzel. "Dass es Bettler geben muss, wo das Almosengeben zu den Hauptpflichten der Religion gehört, hatte einst auch für das Christentum gegolten.

Zwei Nebenhandlungen und ein unerwartet gutes Ende

Almosen waren keine Sozialfürsorge, kein Beitrag zur öffentlichen Wohlfahrt, die verhindern musste, dass eine Schicht von Verelendeten entstand, die im demokratischen Staat gefährlich werden konnte. Ein Almosen war ein persönliches Geschenk an jemanden, der seine Bedürftigkeit behauptete, aber nicht zu beweisen hatte, denn das Almosen sollte das Herz des Spenders bessern und erst in zweiter Linie die Not des Bedürftigen lindern. In dieser Hinsicht waren die Bettler Amtspersonen des öffentlichen Kultes, Religionsbeamte." Und ist nicht tatsächlich der Zwang, seine Bedürftigkeit einer Bürokratie nachzuweisen, eine größere Demütigung, als wenn man sie einfach auf der Straße ausstellt?

Der Roman enthält außer dem Schicksal des flüchtigen Patrick (mit dem es ein unerwartet gutes Ende nimmt) noch zwei Nebenhandlungen. Auf der einen Seite steht die Geschichte seiner Ehe mit der reichen argentinischen Erbin Pilar, bei der er sich als Parvenü immer ein wenig befangen fühlt. Dieser Strang löst sich zum Schluss etwas zu sehr in Wohlgefallen auf.

Zum Glück aber spürt das Buch auf der anderen Seite der Biografie der Kupplerin Khadija nach, die aus ärmsten Verhältnissen stammt, zweimal verwitwet ist (in der Fischereistadt Mogador pflegen die Männer auf See zu sterben) und eine Spezialbeziehung zu einem pechschwarzen Dämon unterhält, welcher ihr Leben zum Guten wie zum Bösen lenkt. Das ist mit großer Einfühlung und, gerade in den bizarren Aspekten, ohne Vorurteil geschrieben. Aber solche Teilnahme verlässt doch die Warte des Beobachters, von der dieser Erzähler sonst so scharf auf das ihm Fremde sieht. Unter seinen Voraussetzungen bedeutet sie eine ästhetische Inkonsequenz. Er weiß hier mehr, als er je sehen könnte.

Beiläufig gelingt es Mosebach, seine Haltung auf den Punkt zu bringen

Gleichzeitig mit diesem Roman erscheint ein zweites Buch von Mosebach, eine Sammlung von "Bagatellen", wie der Untertitel allzu bescheiden verheißt, die zumeist schon einzeln veröffentlicht wurden und sich recht locker miteinander verbinden. Es geht um eine Gesangsprobe für den "Don Giovanni", um den künstlerischen Wert eines Taubeneis, um den Pariser Starfriseur Alexandre. Einige dieser Texte treiben den Standpunkt des konservativen Erzählers auf die ironische Spitze.

Man erlebt Harry Graf Kessler, den Chronisten der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg, wie er an einem italienischen Golf eine leichte Mahlzeit zu sich nimmt. ",Bild ist Lüge', sagte der Ästhet, und seine Beherrschung gewann angesichts seiner unerfüllten Sehnsucht heroische Züge. Auf seiner Zunge breitete sich der ruhige Geschmack erwärmten Olivenöls aus, der abgerundet wurde durch das zarte Salz des darin erhitzten Schinkens und durch die geistvolle Salbei."

Die geistvolle Salbei - da spielt Mosebach ein gefährliches Spiel, denn der Leser wird geneigt sein, dies, statt für ein Zeichen der Distanz, für unmittelbaren Ausdruck des Autors zu halten, und dann kann die Sache leicht in unkontrollierbare Komik umschlagen. "Eine Übertreibung" nennt Mosebach dieses Stück: aber wovon und wozu? Wenn Harry Graf Kessler heute nur noch für solche Wirkungen gut ist, warum sich mit ihm überhaupt befassen?

Der Leser findet sich aber reich entschädigt dort, wo Mosebachs Leichtigkeit und Heiterkeit an ihrem Ort sind, nämlich wo er sich Gegenständen zuwendet, die geringes Gewicht zu haben scheinen und doch den vollen Ernst verdienen, dem Fahrrad zum Beispiel. Fahrräder werden bekanntlich gern gestohlen - dass dies tief in ihrem Wesen begründet liegt, darf man wohl als genuine Entdeckung des Autors werten, der behauptet, sie würden nur von dem wahrhaft besessen, der grade darauf sitzt. "Sie sind den Katzen vergleichbar; wer würde wagen zu behaupten, dass ihm eine Katze gehört, bloß weil er sie gekauft hat, sie ernährt, sie impfen lässt und die Wohnung mit ihr teilt?"

In solchen scheinbar beiläufigen Sätzen gelingt es Mosebach, eine Haltung auf den Punkt zu bringen: Wer den Menschen, vor allem aber den Dingen höflicherweise seine volle Aufmerksamkeit zukehrt, dem gewähren sie überraschenden Einblick ins Herz der Welt.

Martin Mosebach: Mogador. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 367 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro. Martin Mosebach: Das Leben ist kurz. Zwölf Bagatellen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 137 Seiten, 16,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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