Deutsche Gegenwartsliteratur:Spiegel ohne Bild

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Der Schriftsteller Ralf Bönt hat die Bücher seines Kollegen Daniel Kehlmann oft mit einer gewissen Reserve gelesen. Von Kehlmanns schmalem neuen Buch "Du hättest gehen sollen" aber ist er ganz hingerissen. Und schreibt sich seine Begeisterung von der Seele.

Von Ralf Bönt

Heute Morgen entdeckte ich im Spiegel mein Konterfei, und von dem Glück, das ich dabei empfand, handelt dieser Artikel. Dabei geht es eigentlich um das neue Buch von Daniel Kehlmann. Ja, Kehlmann, dessen Romane wir immer noch am Staffelsee oder Oberuckersee lesen, während er Urlaub auf den Bahamas macht. Über Kehlmann ist so viel geschrieben worden, dass ich mich manchmal frage, ob er im Spiegel morgens nicht längst Adriano Celentano grüßt. Das war jetzt ein Witz, den ich mir nicht verkneife, weil Witze wichtig sind. Vor allem Kehlmann sind sie wichtig, und Witze weiß er nicht nur zu reißen oder sachte einzuschieben, wenn man ihn auf Filmpremieren oder beim Michael-Althen-Preis mal trifft. Er wird sie auch zu nehmen wissen.

Kehlmann ist ja ein ausgesprochen freundlicher Mensch und großzügig, allerdings im Lob, von dem ich einmal reichlich abbekam, genau wie im Tadel. Eine typisch deutsche Haltung zur eigenen Bedeutung, eine nämlich, die in Gebrochenheit, Scham und wütender Schuldlust aufginge, ist ihm vollkommen fremd. Ich gebe zu, ich mag das. Wenn einer ein Ziel hat. Wer Literaturkritiker mit Zahnärzten vergleicht und behauptet, letztere seien wenigstens fachlich gebildet, den darf man freilich auch ohne jedes Mitleid dabei beobachten, wenn er Prügel bezieht.

Dem deutschen Geniekult einen komödiantischen Roman zu widmen ist mehr als aller Ehren wert

Oft, und auch in dieser Zeitung, wurde ihm seine Unreife vorgehalten, wo andere Frühvollendung sahen. Ach Kehlmann, möchte ich heute rufen, auch ich habe an dir gezweifelt, nur selbstverständlich ganz anders als all die anderen. Liebenswert fand ich deine Bücher, und unspannend. Musste, wenn ein Physiker auftrat, der Nobelpreis gleich daneben liegen? Witzig die Komödie über den Maler, obwohl sie handelte ja nicht vom Maler, sondern nur von seiner Karriere: war das so wichtig?

Daniel Kehlmann, "Du hättest gehen sollen", Rowohlt 2016, 96 Seiten, 15 Euro; E-Book 14,99 Euro. (Foto: Verlag)

Und dann Gauß. Ganz ehrlich, dem deutschen Geniekult einen komödiantischen Roman zu widmen ist mehr als aller Ehren wert, zumal in einer Zeit, in der man wieder im Pfingstfest Halt sucht, statt endlich mal den Kindern die Entropie zu erklären. Aber muss dann Gauß, dieser Seltene, dessen Werk unüberschaubar ist und dessen Bekanntschaft den englischen Großwissenschaftler Humphry Davy mit Stolz erfüllte, sich im Bett verstecken?

Gauß sei von sehr hohem moralischen Stand, schrieb Humphry Davy, von einem intellektuellen Streben, das weniger Rang und Unterscheidung kennt, als man es in Frankreich oder England gewohnt sei, voller Freizügigkeit seien Gauß und seine Freunde. Und wie klein hast du ihn gemacht, Kehlmann, der du uns doch von Thomas Mann erlöst und gelehrt hast, was heute eine klare Sprache ist.

Zu deinem Ruhme. Nur aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass die Ehebruchsgeschichte in dem Erzählband mich berührte. Dass der Roman "F" lustig sein wollte, doch voll des Ernstes war, auf den ich wartete. Deine Züge waren markanter, als wir mal wieder an einer Theke standen, die Selbstironie federnder, Bemerkungen über Kinder häufiger. Mit denen fängt das echte Leben halt an. Und nun dieses kleine Buch, das so umwerfend große Kunst ist: "Du hättest gehen sollen" ( Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 96 S., 15 Euro. E-Book 14,99 Euro).

Ergreifend ist nicht nur das Fehlurteil mancher Kritiker, die dir nun Kunsthandwerk, und auch noch schlechtes attestieren. Ergreifend ist auch die lässige Präzision, mit der du den Mann zeigst, der eben noch mit Frau und Kind und Beruf bis zur Hüfte im Glück stand. Jetzt versteht er nicht, dass seine Hand noch bis zum Wasserhahn durch einen Raum mit drei Dimensionen gelangt, dank der Verwendung der Zeit. Um seine Tochter zu baden.

Was bedeutet das? Eine poetischere Schilderung des Selbstverlustes durch Überforderung, Fragmentierung und dialektische Aufhebung aller eigentlichen Motive menschlichen Lebens kenne ich nicht, wenn ich das lese. Unser aller selbst gewählte Hölle aus Kind Mutter Vater plus Karriere plus Karriere plus Haushalt plus plus plus: Tausend Leitartikel haben nicht einfangen können, dass man so nicht leben kann und doch muss und will. Dass die Grenzen des Ich sich auflösen, weil man Vorschüsse gewährt.

Wenn man dem Produzenten erzählt, was man schreibt, statt zu schreiben, dem Kind Aufmerksamkeit schuldet, statt welche zu haben, sich fragt, warum man sich nicht fragt, warum man keine Nähe zur Frau mehr empfindet, statt sich zu antworten, aber der Produzent ist schon wieder am Telefon und man kann ihm nicht sagen, was man angeblich gerade schreibt, weil das Kind einen nicht ausreden lässt.

Und wo ist jetzt die Frau? Gar nicht trivial, wenn man selbst die Nagelschere nimmt und sich säuberlichst aus dem Bild schneidet, ohne es zu merken, weil man doch alles nur gut meint und es später einlösen wird, bis man in den Spiegel schaut und dort kein Bild mehr ist. Genau so ist das. Man muss eben leben. Für die Kunst. Die man zum Leben braucht.

Ralf Bönt, geboren 1963 in Lich in Hessen, lebt in Berlin. Er studierte Physik, arbeitete unter anderem im Cern Genf und ist seit 1994 freier Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Das kurze Leben des Ray Müller" (2015).

© SZ vom 16.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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