Deutsche Gegenwartsliteratur:Ein Lastkahn zieht vorbei, am Ufer grünt die Birke

Betulichkeit kann manchmal eine literarische Tugend sein: Birk Meinhardt kehrt im zweiten Band seines Familienromans nach Thüringen zurück und lässt die in der DDR aufgewachsenen "Brüder und Schwestern" die Jahre von 1989 bis 2001 erleben.

Von Christoph Bartmann

Als vor vier Jahren der erste Band von Birk Meinhardts groß angelegter DDR- und Familienchronik "Brüder und Schwestern" erschien, war die Kritik wenig begeistert (der Vorwurf lautete auf "Unterhaltungsliteratur"), viele Leser waren es aber schon. Genau so habe es sich angefühlt, das Leben in der späten DDR, stand in mehr als einem Leserkommentar. Birk Meinhardt ist keiner von denen, die, wie vielleicht Reinhard Jirgl oder Wolfgang Hilbig, dem System mit hochliterarischer Sprödigkeit getrotzt haben. Sein lebensfroher Realismus umspannt bruchlos die erzählte Zeit von 1973 bis 2001 und nimmt auch an der Wende von 1989 keinen nennenswerten Schaden. Die Zeiten ändern sich vielleicht, sogar dramatisch, und sie stellen die handelnden Personen auf manche harte Probe, aber erzählerisch, literarisch und auch mental scheint alles zu sein, wie es immer war.

Der erste Band spielte noch vorwiegend im Thüringischen und kreiste um Willy Werchow, den VEB-Druckereidirektor und dessen ewiges, manchmal opportunistisches Ringen mit der Obrigkeit. Im neuen Buch geht es nun um seine Kinder, Erik, Matti und Britta, und darum, was der November 1989 mit ihnen angerichtet hat. Erik, schon in der DDR als Reklamefachmann tätig, staunt bei seiner ersten Westvisite in der Nacht des Mauerfalls über die üppige Westwerbung und findet dann zügig Anstellung als PR-Manager einer westdeutschen Pharmafirma. Matti, Poet und Binnenschiffer, verdient richtig viel Geld mit einem Buch und verwandelt seinen Lastkahn in ein fest verankertes Berliner Kneipenschiff. Britta, eben noch als Zirkuskünstlerin gefragt, wird plötzlich nicht mehr gebucht. Sie braucht viel Zeit, bis sie wieder auf die Beine kommt.

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Birk Meinhardt: Brüder und Schwestern. Die Jahre 1989-2001. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017. 672 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Dazu jede Menge weiterer Figuren, Ehefrauen, Lebensgefährten, Geliebte, Kinder und treue Sidekicks wie den Schiffskoch Peter, den Meinhardt so ausdauernd und lebensnah berlinern lässt, dass man sein trauriges Ende ernstlich bedauert. Den Brüdern und Schwestern des Romans ist die Wende nicht so schlecht bekommen. Zwar hat sie den einen oder die andere vorübergehend aus der Bahn geworfen, zwar misstrauen alle drei den Verlockungen des Westens (Produktmanagement, Systemgastronomie und dergleichen), aber Chancen gibt es zuhauf, jedenfalls dann, wenn man zur Generation von Willy Werchows Kindern gehört.

Ein Fall von Familienpatriotismus: Man wüsste allzu gern, wie es mit diesen Menschen weitergeht

Alles Emotionale oder die Identität Betreffende hat freilich im Osten sein Domizil, nicht in Ostberlin, sondern im heimischen Gerberstedt am Ufer der Schworba in Thüringen, wo das Elternhaus steht. Die DDR-Vergangenheit und die neue gesamtdeutsche Gegenwart mit ihren Härten und dem, was die Erinnerung schon schöngefärbt hat, ist nur die eine und nicht die dominante Seite des Romans. Das Wichtigere sind familiäre Altlasten, die nach Aufklärung und Verarbeitung verlangen und die in einer Überraschung kulminieren, auf die der Roman 600 Seiten hinarbeitet. Danach kann er auch getrost ein Ende finden, nicht weil wir 2001 noch als eine Art Epochenjahr schreiben, sondern weil am Ende dieser Jahre die Geschwister mit ihren Familien, mit sich und auch mit der Welt im Reinen zu sein scheinen.

Band zwei von "Brüder und Schwestern" ist "literarisch" wahrscheinlich kein besseres Buch als der erste Band. Meinhardt ist selten um Stilblüten verlegen ("Derart bebend, pflegte er sich Catherine zu nehmen. Ernst und dringlich fiel er fast jeden Tag in sie ein"), er verliert sich mitunter seitenlang in Monologen oder in Komplettwiedergaben von Briefen. Selten folgt der Erzähler dem einmal von einer Figur geäußerten Vorsatz: "Ich werde mich straffen, mich und meine Rede."

Es gibt allerlei Langatmigkeiten und Umständlichkeiten in diesem Roman, aber sie sind der Reflex einer realen, wenn auch untergegangenen Sprach- und Erzählwelt, in der einer ruhig auch mal länger ausholen durfte, weil Zeit im Übermaß zur Verfügung stand. Mit der Gemächlichkeit eines Binnenschiffs bewegt sich der Roman durch seine Landschaft, und er hat Zeit, dabei auf die Jahreszeiten oder das Wachstum der Pflanzen am Ufer zu achten. "Am verwaisten Ufer prägte die Natur jetzt ungehindert Farben und Formen aus. Schmale weiße Birken sprossen aus kleinen sandigen Kuhlen zwischen dunklen Betonplatten." Man spricht Meinhardts Roman nicht von Schwächen frei, wenn man als eine seiner Tugenden die Betulichkeit ausmacht, oder anders, die Bereitschaft oder Gabe seiner Figuren, sich ihre Sorgen und Nöte sprachlich mitzuteilen, sich, auch wenn es dauert, einander verständlich zu machen.

Die Katharsis, auf die der Roman zuläuft, kommt durch behutsames, redundantes Reden zustande. Man wüsste dann schon noch gerne, wie es nach 2001 mit Erik, Matti und Britta und den anderen weitergegangen ist. Ob ihr Thüringer Familienpatriotismus auch im neuen Jahrtausend Bestand hatte, welche neuen Überraschungen das Leben seitdem für sie parat hielt. Ist nicht der Wunsch zu wissen, wie es mit den Figuren weitergeht, ein untrügliches Zeichen von "Unterhaltungsliteratur"? So gesehen, ist Birk Meinhardt ein bemerkenswertes Stück Unterhaltungsliteratur gelungen.

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