Deutsche Gegenwartsliteratur:Dieses Land ist verflucht

Feridun Zaimoglus Roman "Siebentürmeviertel".

Von Insa Wilke

Feridun Zaimoglu ist der Filou der deutschsprachigen Literatur. Ein Trickser und Spieler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den "Aromatresor" der deutschen Sprache zu öffnen. Der Drang seiner Romane, ihre Maßlosigkeit und Unbedingtheit, zeugen aber auch von einem fast schon unheimlichen Ernst. Vor dem Ernst rasch noch die Anekdote: Auf die Frage, was es denn damit auf sich habe, dass er seinen neuen Roman "Siebentürmeviertel" in 99 mit den Namen Allahs überschriebene Kapitel unterteilt habe, gab Zaimoglu an, er dächte nun einmal stets an seine Leser: Er habe ihnen nicht 800 Seiten am Stück zumuten wollen. Im Sinne der Leserfreundlichkeit sei er daher auf die Idee mit den 99 Gottesnamen verfallen, um die Episoden seines Romans wie Perlen auf eine Kette aufzufädeln.

Leserfreundlichkeit?! Das fällt einem nun wirklich nicht zuerst ein, wenn man sich ächzend durch Zaimoglus "Siebentürmeviertel" gekämpft hat. Um den deutschen sechsjährigen Jungen Wolf, der im Jahr 1939 mit seinem Vater, einem kaisertreuen Sozialdemokraten, der wegen einer abfälligen Bemerkung gegen Hitler ins Istanbuler Arme-Leute-Viertel fliehen musste, spinnt Zaimoglu in der für ihn typischen rhythmischen Prosa ein dichtes Gewirr von Figuren und Geschichten, die gar nicht episodenhaft, sondern unverfugt aufeinanderfolgen und ineinander übergehen. Wie im echten Leben.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman Siebentürmeviertel stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Wer aber nun glaubt, bei Zaimoglu etwas über Istanbul zu erfahren oder über die politische Situation 1939 (Teil 1) und 1949 (Teil 2), wird klagend und zeternd von dannen ziehen müssen. Zwar wuchs Zaimoglus Vater in Yedikule (Siebentürme) auf, zwar erwanderte sich der Autor das Vielvölkerviertel, lauschte den Menschen dort und recherchierte den historischen Hintergrund, doch so gut wie nichts davon taucht in Form einer Kulisse auf. Insofern handelt es sich bei diesem Buch auch nicht wirklich um einen historischen Roman, sondern um eine Mischung aus Adoleszenzgeschichte, Räuberpistole, Rührstück und erzählerischer Reflexion über Fremde und Heimat.

Zaimoglu verbindet wieder eine erkennbare Kunstsprache mit dem Gestus der Straßensprache

Während nämlich Wolfs Vater das Exil nur als Unterbrechung seines Lebens in Deutschland sieht und sich zunehmend feindselig gegen seine Gastgeber verhält, behauptet Wolf sich auf den Straßen des Siebentürmeviertels und wird von seiner muslimischen Pflegefamilie an Sohnes statt angenommen. Er entscheidet sich zu bleiben und wandelt sich vom "deutschen Kind, das die Düsternis vertreibt" zum abergläubisch beäugten Todesboten. "Das Viertel ist mein Land", bekennt er trotzdem. Ein Satz wie dieser bringt einen Teil von Zaimoglus Poetik auf den Punkt: die Abwendung von der großen Politik und das Bekenntnis zur Nachbarschaft, zum Mikrokosmos. Die apokalyptischen Zuspitzungen des Zweiten Weltkriegs spiegeln sich dieser Logik folgend darin, dass die Stimmung im Viertel kippt, und Zaimoglus Einschätzung der türkischen Politik darf man wohl in dieser düsteren Prophezeiung vermuten: "Dies Land ist verflucht. (. . .) Es wird sich nichts ändern."

Istanbul

Badende an der Theodosianische Mauer, am Ufer von Yedikule, dem Istanbuler Viertel, in dem Feridun Zaimoglus Vater aufwuchs.

(Foto: Andrea Kuenzig/laif)

Die große Politik schleicht sich also durch die Hintertür wieder ein, wenn es um Blut und Ehre, um Freundschaft und Verrat geht. Wolfs Jugendgang trägt ihre Kämpfe aus und sein türkischer Vater, der "Siebentürmemonarch" Abdullah Bey, sorgt mit allen anderen Mitteln, nur nicht mit Worten für Recht und Ordnung im Viertel und nebenbei auch für die eigene Machtposition. Zugleich aber erzählt Zaimoglu eben auch, wie die soziale Hierarchie verhandelt und wie Sicherheit jenseits staatlicher Strukturen garantiert wird.

Zaimoglus Frauenfiguren, die überwiegend die "neue Zeit" repräsentieren, stellen diese archaischen Praktiken ebenso infrage wie die Männlichkeitsrituale, die von der türkischen Soziologin und Autorin Pınar Selek mal als "Feste der Angst, um Angst zu unterdrücken" bezeichnet wurden. Aber das klingt schon viel zu analytisch. Zaimoglu ist ein wilder Erzähler des groben Strichs auf der großen historischen Bühne und des feinen Pinsels in den Details. Ihm unterläuft zum Beispiel einerseits, dass er im Eifer des Sprachgefechts den deutschen Vater trotz seines Abgrenzungsbedürfnisses sprachlich überhaupt nicht von den Siebentürmern unterscheidet. Dafür sind die Dialoge der Krämer und Armenier, der Irren und Clan-Führer, der Huren und Mütter oft von hinreißender Originalität.

Siebentürmeviertel

Feridun Zaimoglu: Siebentürmeviertel. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015. 800 Seiten, 24,99 Euro.

(Foto: Kiepenheuer und Witsch)

Der Roman "Siebentürmeviertel" besteht überwiegend aus diesen Dialogen, die, wie es Zaimoglus Eigenart seit jeher ist, eine als solche erkennbare Kunstsprache mit dem Gestus der Straßensprache verbinden. Mancher Kritiker wird wieder einwenden, dass so doch keiner spricht und schon gar nicht die "einfachen" Leute, denen Zaimoglus Herz gehört. Stimmt vielleicht, macht aber nichts, wenn Wolfs Pflegemutter Bayka Hanim ihren angenommenen Sohn mit dem Satz ermahnt: "Richte die Schneide nicht gen Himmel, die Engel verletzen sich die Zehen", und wenn der sechsjährige Wolf seinen deutschen Vater mit dem Ausspruch zitiert: "Ich und dies Land - das passt wie der Geier ins Taubenhaus." Unglücklich der Leser, der sich an solchen Redewendungen nicht freuen kann und nicht über die Komik mancher Szenen in schallendes Gelächter ausbricht, zum Beispiel die eines der ersten Kinoereignisse im Viertel: "Der Held wird am Arm getroffen, läuft die Kellertreppe hinunter, und kommt gerade rechtzeitig: Der Boss will die entführte Heldin schänden. Entsetzensschreie der Frauen. Er schießt ihm in den Hals. Hochrufe der Männer. Minutenlanger Beifall."

In der Komik dieser Skizze verbirgt sich zugleich eine Würdigung des Kinos als gemeinschaftsstiftende Unterhaltungskunst. Ihr steht Zaimoglu näher als dem Epos mit bildungsbürgerlichem Anspruch. Seine ausufernden Romane gleichen trotz der Dialoge im Gestus eher dem Stummfilm oder dem Marionettentheater, das aus seiner Künstlichkeit keinen Hehl macht, trotzdem deftigst mitten aus dem Leben erzählt und im Subtext durchaus gewieft die politische Gegenwart kommentiert.

Denn was anderes macht Feridun Zaimoglu, dieser clevere Meister im Spiel mit Erwartungen, als den herablassenden Blick der westlich-aufgeklärten Welt mit seiner balkan-romantischen Tragik-Burleske und der unendlichen Geschichte der Blutrache zu bedienen und damit bloßzustellen? "Große Worte. Große Gefühle. Und am Ende doch nur Gewalt", sagt Wolf über die Türken. Sein Autor lehnt sich zurück, belässt es bei den 99 Namen Allahs und überantwortet anderen die Aufklärung des Abendlandes.

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