Deutsche Gegenwartliteratur:Der Wald, der See, das Dorf

Deutsche Gegenwartliteratur: Nina Jäckle: Stillhalten. Roman. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2017. 190 Seiten, 20 Euro. E-Book 13,99 Euro.

Nina Jäckle: Stillhalten. Roman. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2017. 190 Seiten, 20 Euro. E-Book 13,99 Euro.

Nina Jäckles Roman "Stillhalten" über ihre Großmutter erzählt von der Frau hinter dem berühmten Bild, das Otto Dix in den frühen Dreißigerjahren von der Tänzerin Tamara Danischewski gemalt hat.

Von Jessica Sabasch

In einem dunkelgrausamtenen Kleid steht sie kerzengerade da. Herzförmiges Gesicht, kleine Augen, schmale Lippen, die lächeln, goldenes Haar. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie eine Iris. Hoffnungsvoll scheint sie der Zukunft entgegenzublicken. Ganz anders als die Verlorenen und Verwelkten, die der Maler sonst abbildet. Im Hintergrund wuchert der Hopfen. Rückblickend wird man sagen können, das Gewächs stehe sinnbildlich für den sich ausbreitenden Nationalsozialismus. Rückblickend wird ihre Enkelin schreiben, das Bild enthalte alles, "was an Bedeutendem geschehen ist, gleichsam alles das, was daraus noch hätte entstehen können".

Im Jahr 1933 porträtierte Otto Dix die junge Tänzerin Tamara Danischewski. Sie studierte Ausdrucktanz bei Mary Wigman in Dresden. Um Geld für sich und ihre Mutter zu verdienen, trat Tamara abends im Kabarett auf. Dort begegnete sie Dix zum ersten Mal. Er bittet sie, für ihn Modell zu stehen. Doch für beide, den Maler und die Tänzerin, wird das fertige Bildnis zum Wendepunkt, die Pose zur Lebensform: Stillhalten. Dix wurde 1933 aus seinem Lehramt an der Dresdner Akademie entlassen. Als einer der ersten Künstler verließ er die Stadt. Tamara heiratete drei Jahre später einen Mann, der ihr das Überleben sicherte und sie zwang, das Tanzen für immer aufzugeben. "Er hat mich gefragt, und ich sagte Ja, und gleichzeitig auch sagte ich Nein, zu allem anderen, das vielleicht hätte werden können."

"Stillhalten" ist ein großer Möglichkeitsroman. Nina Jäckle erzählt die Geschichte eines vergebenen Lebens. Von Sehnsucht und der Sogkraft der Erinnerung. Die Frage, die der Text unaufhörlich stellt, lautet, was wäre wenn? Hat dieser Mann, der ihrer Großmutter im entscheidenden Moment die Hand reichte und sie von der Bühne hinab in den Zuschauerraum holte, Tamara gerettet oder ins Unglück gestürzt? Vielleicht beides. "Es hätte Turin sein können, Mailand, Genua, es hätte Amerika sein können, und es wurde der Wald, der See, das Dorf." Ausgerechnet ein zum See gewordener Steinbruch, wird zum Ort ihres Lebens. Die ehemals Schwebende zum Findling, "hierher verfrachtet und nicht mehr unter seinesgleichen".

Als sie jung war, berührte sie mit keinem ihrer Füße den Boden, nun ist die Welt verriegelt

Wie der getretene Hund im Zwinger, sitzt die alt gewordene Tamara bei angestellter Alarmanlage im Obergeschoss des Hauses. "Meine verriegelte Welt, wer hätte das gedacht, einst, als ich noch jung war und mit keinem meiner Füße den Boden berührte", schreibt sie in ihr Abrechnungsbuch. Nebensächliches und Existenzielles sind darin immer eins. Über dem Schreibtisch hängt das Duplikat des Bilds. Regelmäßig bekommt sie Postkarten, auf denen steht, wo es im Original zu sehen ist. Ihr Porträt reist um die Welt, während Tamara nie mehr fort kommt. Ihr neuer Rahmen ist das Fenster, aus dem sie nach draußen sieht und sich fragt, "ob sie nicht mehr vom Himmel, mehr vom Leben verdient hätte".

Nina Jäckle erzählt ganz nah an ihrer Protagonistin. Der Name Otto Dix fällt auf 180 Seiten kein einziges Mal. Bedeutung generiert sich durch genaues Beobachten und eine präzise, bildhafte Sprache, die einer assoziativen Logik folgt. Vergangenheit und Gegenwart sind ineinander verwoben. So entfaltet sich im Leser wie nebenbei auch eine Idee von der Entstehung des Kunstwerks. Der Text fungiert sozusagen als Making-of des Bilds, etwa in der Szene, als Dix und Tamara tanzen, während eine Farbschicht trocknet.

Es sind vor allem die Dinge, denen sich Tamara auf ihrer ständigen Suche nach Klang und Schönheit zuwendet. Der Welt der Pflanzen und Tiere fühlt sie sich verbunden. Ihrem Mann, der das Erdgeschoss des Hauses bewohnt, begegnet sie nur vier Mal im Monat, sonntags beim gemeinsamen Frühstück. Im Roman bleibt Tamaras Ehe kinderlos. Umso berührender liest sich jene Passage, in der sich die Enkeltochter als Möglichkeit in den Text hineinschreibt. Was bleibt ist eine Leerstelle, der Abdruck einer Fliege vielleicht, die im Moment des Nachdenkens gegen die Fensterscheibe prallte.

Diese Stellen, an denen der Text über sich selbst und sein Gestaltungsprinzip nachdenkt, sind so schön wie erhellend. Die geschriebene Geschichte erscheint so nur als eine von vielen möglichen Varianten, genau wie Otto Dix' Bildnis der jungen Tänzerin. Es könnte alles auch ganz anders sein. Alles ist beliebig, in der Kunst wie im Leben. Auf die ästhetische Umsetzung kommt es an.

"Nun stehe ich hier in dieser Variante", denkt Tamara, und "wischt mit einem weißen Stofftaschentuch über die Fensterscheibe". Es ist einer jener kurzen Momente geglückter Gegenwart und Dichte, die nur die Literatur hervorzubringen vermag.

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