Deutsche Gegenwart:Ehrenrunde

Lesezeit: 4 min

Mit seinem Roman "Auerhaus" ist Bov Bjerg zu einem gefeierten Autor geworden. Nun versammelt ein Band Geschichten aus der Zeit, bevor er in die Siegerkurve einbog.

Von Christopher Schmidt

Ganz am Schluss erlaubt sich Bov Bjerg einen Scherz zu seinen eigenen Lasten. "Bald darauf erschien eine Sammlung meiner Geschichten", lautet der vorletzte Satz in seinem Buch, das genau dies ist, eine Sammlung seiner Geschichten. Und dann heißt es: "Die beste Geschichte war nicht dabei." Bei anderen Autoren könnte solch vorauseilendes Zurückrudern kokett wirken, wie eine pseudobescheidene Eitelkeitspirouette. Nicht aber bei Bov Bjerg, der eigentlich Rolf Böttcher heißt und mit seinem Roman "Auerhaus" im vergangenen Jahr vom Himmel - und selbst aus allen Wolken fiel. Vor dem überraschenden Erfolg war Durchbruch für ihn wohl nur ein Wort aus der Darmkrebsvorsorge gewesen.

Bov Bjerg weiß natürlich, dass sein Verlag das neue Buch dem Vorgängertitel seines aufgehenden Sterns rasch hinterherschießt, ehe der womöglich schon wieder erloschen ist. "Die Modernisierung meiner Mutter" versammelt Gutes von gestern, kleine und kleinste Geschichten, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind, aus verschiedensten Nischen zusammengefegt zu einer literarischen Singles Collection. Und doch ist der Band mehr als nur Zweitverwertung dessen, was Bov Bjerg auf diversen Lesebühnen vorgetragen hat. Er ist vielmehr eine Art Making-of des Romans "Auerhaus", das einen dabei zusehen lässt, wie ein Schriftsteller zu seinem Thema und zu sich selbst findet.

Manche Geschichten wirken wie Fingerübungen auf der Luftgitarre

Denn nicht alle Geschichten in diesem Band haben dieselbe hohe Qualität. Besonders die, die in Berlin spielen und etwa von einem Horoskop-Schreiber erzählen, der auf ein unbekanntes Wesen trifft, nämlich eine seiner Leserinnen, von aufständischen Spartakisten im Schnäppchenmarkt oder vom freundlichen Wahnsinn einer Supermarkt-Kassiererin, sind kaum mehr als humoristisch verbrämte Moralitäten über entfremdetes Leben im Weddinger Souterrainmilieu. Die eine oder andere Berlin-Pointe liegt da einfach auf der Straße: "Vor den Hostels saßen Laptoptipper, die an komplizierten Kaffees nippten". Über den verpeilten Witz mancher Geschichten heißt es, "selbst ich brauchte, wenn ich sie verstehen wollte, die Hilfe der Fa. Alk & THC Vereinigte Schlüsseldienste". Und der Einzige, der einmal über eine dieser Geschichten lacht, verteilt am Tag darauf Fotokopien des Kommunistischen Manifests auf dem Leopoldplatz, und zwar nackt und nur an die Linksabbieger. Dergleichen wirkt wie Fingerübungen auf der Luftgitarre zum Soundtrack des von Bov Bjerg bewunderten Max Goldt.

So viel zum Thema "falsch abgebogen". Hätte Bov Bjerg hier weitergemacht, wäre er vielleicht nicht in der Gosse, aber in der Glosse geendet. Stattdessen aber hat er die Richtung geändert, ist zurückgekehrt zu seiner Herkunftswelt in der schwäbischen Provinz der Achtzigerjahre, in der ja der Verkehrsführung herausragende Bedeutung zukommt, weshalb die drei Teile des Buches mit kleinen Verkehrsschildern bebildert sind. Man denkt sofort an den alten Witz: München liegt an der Isar, Köln am Rhein, Stuttgart an der A 8. Ganz wichtig ist hier der Kreisverkehr. Eines der Unfallopfer, vor dessen Einführung, ist ein Zuchtbulle, der nach der Kollision mit einem VW Käfer nur in Gestalt eines Bechers mit grünem Wackelpudding beerdigt werden kann, weil seine sterblichen Überreste in eine Gelatinefabrik verbracht wurden.

Gleich mehrere Geschichten handeln von diesen Verkehrskreiseln, Sinnbild für den rasenden Stillstand des Landlebens, wo jede Ausfahrt nur in denselben Stumpfsinn führt: "Birth, school, work, death", heißt es in "Auerhaus" über die vorgespurten Biografien der Dorfjugend, die von den Eltern "das Abitur und das Leben" erbt. Jeder Lichtpunkt in der Nacht "ein funktionierender Fernseher". "Auerhaus", benannt nach dem Madness-Song "Our House", ist eine Fortschreibung des Märchens von den Bremer Stadtmusikanten, jener ältesten Selbsthilfegruppe der Literatur, deren Blues Bov Bjerg neu abgemischt hat. Etwas Besseres als den Tod, wie es im Märchen heißt, findet Frieder, der schon einen Suizidversuch hinter sich hat, der "ein trockener Selbstmörder" ist, in der Schüler-WG, die in ein altes Haus zieht, nur weg von den Katastrophen daheim. "Nicht achtzehn zu werden, war scheiße. Wenn man nicht achtzehn wurde, war alles umsonst."

Motive aus dem Roman sind in den Geschichten vorgebildet: Die Gruselfigur des Auschwitz-Apothekers Capesius als leibhaftiges Dorfgespenst etwa, oder die Idee Frieders, die Innentasche seiner Jacke herauszuschneiden, um sich auf diese Weise "vom einfachen Ladendieb zum Klauprofessor" hochzuarbeiten. Oder die alleinerziehende Mutter, die in einer der Geschichten den Führerschein macht, um einmal die ganze Familie in den gebrauchten VW Jetta zu setzen und zur deutsch-tschechischen Grenze zu fahren. Dort hat der Chef der Supermarktkette, bei der sie angestellt war, ein Denkmal gestiftet, und die Mutter bricht einen Stein heraus, als Wiedergutmachung für all die unbezahlten Überstunden.

Vom Crowd Pleaser hat sich der Autor weiterentwickelt zum subtilen Performer

In einer anderen Geschichte putzt und kocht die Mutter für ein zum Katholizismus konvertiertes Lehrerehepaar. Deren geistig zurückgebliebener Sohn wird vom örtlichen Kinderschänder, der mit der Bonbontüte auf Beutejagd geht, sexuell missbraucht. Einmal kommt der junge Ich-Erzähler zum Essen vorbei, es gibt Schinkennudeln, allerdings nach dem Rezept der Hausherrin. Der Junge bleibt höflich, "ich kannte meine Roots, auch meine kulinarischen, und war stolz wie Kunta Kinte". Und obwohl es scheußlich schmeckt, lädt er sich immer wieder den Teller voll mit diesen "Muskatnussjoghurtsoßenkonvertitenschinkennudeln", dieser "vertrockneten, pietistischen Schuldbewusstseinsjoghurtmasse". Bis er sich übergeben muss, und was da hochkommt, ist die ganze unverdaute Mischung aus bildungsbürgerlicher Scheinidyllik, verlogenem Moralismus und provinzieller Enge.

In seinen Geschichten "Die Modernisierung meiner Mutter" ist Bov Bjerg noch auf der Suche nach dem Ton, den er in "Auerhaus" gefunden hat, dem Buch, das von den schwersten Dingen so wundersam leicht erzählt. Es ist kein Zufall, dass dieser Ton sich auf den Lesebühnen herausgebildet hat, im mündlichen Vortrag also. Dort konnte er sein Gespür für Timing und Rhythmus schulen, aber Bov Bjerg hat sich eben nicht begnügt mit dem Crowd Pleasing, er hat sich weiterentwickelt zu einem Performer, der mit seinen Pointen leise Wirkungstreffer setzt. "Ich bin satt. I am sad", sagt Frieder im "Auerhaus"-Buch einmal. Bov Bjerg hat zuerst gelernt, wie man ein Publikum satt macht, und dann, wie man es sad macht - traurig auf die beglückendste Art.

Bov Bjerg: Die Modernisierung meiner Mutter. Geschichten. Blumenbar im Aufbau Verlag, Berlin 2016. 160 Seiten, 16 Euro. E-Book 13,99 Euro.

© SZ vom 30.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: