Deutsche Gedichte:Im Vollbesitz des Zweifels

Der lyrische Volkstribun Peter Rühmkorf ist endlich in der Klassikerloge angekommen. Und die muss nun erst mal geschlossen werden, so gut sind seine "Sämtlichen Gedichte" aus sechs Jahrzehnten. Seine wachsende sprachliche Aufrüstung ist ein Erlebnis.

Von Hilmar Klute

Peter Rühmkorfs sämtliche Gedichte in einem dicken Band - so ein Klotz hat natürlich das Zeug zum Hausbuch, zumal da Rühmkorf ohnehin in die Loge der großen lyrischen Volkstribune gehört, wo Heine, Bellmann, Ringelnatz und Kästner sitzen, um deren posthume Gastfreundschaft er sich immer wieder beworben hat. Rühmkorf steht in der Tradition dieser großen Zeitpoeten, er verfügt über eine ähnliche Radikalität und Klarheit im politischen Denken; er schrieb Gedichte im Volksliedmodus und baute den sarkastisch-lyrischen Erzählton des späten Gottfried Benn zu einem eigenen poetischen Bekenntnis-Sound um, wobei er selten vergaß, die hohe Warte des Genies souverän zu parodieren: "Noch Seher oder schon Spanner, das ist hier die Frage."

Von den meisten seiner Gewährsmänner unterscheidet sich Rühmkorf jedoch durch seinen poetologischen Verpflichtungsvertrag: Dichtung ist nie selbstverständlich da, wird nie selbstverständlich gelesen und ist nie selbstverständlich relevant. Sie wird es erst, wenn sie als Reibeisen an die politischen Verhältnisse angesetzt wird. Allerdings: "Sämtliche Gedichte", das ist leider auch ein Abschluss-Siegel, da kommt nichts mehr nach, kein Nachlass bleibt ungesichtet, boarding completed. Es geht also jetzt um die Gesamtschau, und die trifft immer auf philologische Fallstricke.

Deutsche Gedichte: Peter Rühmkorf: Sämtliche Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 624 Seiten, 39,95 Euro.

Peter Rühmkorf: Sämtliche Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 624 Seiten, 39,95 Euro.

Der wachsenden sprachlichen Aufrüstung des Dichters zu folgen, ist ein großes Leseerlebnis

Oft bergen "Sämtliche Gedichte" ja den leicht voyeuristischen Reiz, die Anfänge eines Lyrikers der pharisäerhaften Verständnisinnigkeit des Werkkenners auszusetzen à la: auch der größte Artist hat mit ganz kleinen Jongleursdarbietungen angefangen. Anders gesagt: Das Frühwerk hält man für rührig, in Ansätzen talentiert, im Ganzen aber für vernachlässigbar. Bei Rühmkorf ist das erstaunlicherweise anders. Denn selbst in den ganz frühen Gedichten steckt schon jener kluge Aneigner, Adept und Weitertreiber, als der Peter Rühmkorf später so souverän sein eigenes Werk ins Verhältnis zu den klassischen Referenzgrößen Klopstock, Walther von der Vogelweide und Brecht gesetzt hat; einer, der die Traditionen so genau kennt, dass er gar nicht der Gefahr erliegt, ihr Epigone zu werden. "Ich aber sage euch: es wird Friede auf Erden / Erst wenn aus Stahlhelmen Nachttöpfe werden . . . Wenn an den Lokalen steht: Für Patrioten/ Eintritt verboten."

Das liest man heute weg wie Manna, man möchte es so gerne den Hass- und Angstmäusen in Dresden und anderswo vorsingen. Aber nicht vergessen: In den späten Vierzigerjahren, als Rühmkorf mit dem Dichten anfing, war die Blaupause für solche Verse noch die Verbotsprosa der Nationalsozialisten, die wenige Jahre zuvor Juden und Homosexuellen die Eintritte untersagt hatten.

Einige von Rühmkorfs frühen Texte haben bereits den Mix aus politischem Habacht und jener Lässigkeit, die aussieht, als habe er seine Sätze aus dem Ärmel geschüttelt. Aber Rühmkorf schüttelte nichts, er fräste sich durch das Material, schrieb unzählige Fassungen und kokettierte wohl auch gelegentlich mit der Kärrnerarbeit am Wort. Sein berühmtes Langgedicht "Mit den Jahren . . . Selbst III/ 1988" ließ er als stattliches Arbeitskonvolut publizieren, damit alle, die ihn als "Bruder Leichtfuß" feierten, begriffen: "Was dann nachher so schön fliegt, wie lange ist darauf rumgebrütet worden?"

Leseprobe

Einen Auszug aus den Gedichten stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Bernd Rauschenbach, der die Rühmkorf-Gesamtausgabe bei Rowohlt besorgt, hat diese nun wohl letzte große Ausgabe von Rühmkorfs Lyrik herausgegeben. Schön chronologisch geordnet und - nach dem Willen des Dichters - die sehr frühen Texte hintangestellt. Richtig in Gang kommt Rühmkorfs lyrische Weltmaschine in der ersten programmatischen Sammlung "Irdisches Vergnügen in g" von 1959. Hier geht es schon los mit dem Gekabbel zwischen dem Kollektiv und dem radikalen Ich-Sager, dem wahlweise "wackeren Sohn des Moments" oder "seiner Klasse natürlicher Sohn" - Rühmkorf legt sich auf ein individualistisches Dazwischen fest: "Ich sehe ein großes Motiv: Ich sehe dich / im Vollbesitz deiner Zweifel froh." Es ist ein großes Leseerlebnis, Rühmkorf bei seiner von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wachsenden sprachlichen Aufrüstung zuzusehen. Im Wechselspiel zwischen dem virtuosen Reimzauber und den poetischen Pamphleten seiner Hymnen, in denen ein noch nicht altes, aber schon so fernes Deutschland aufscheint - mit Kämpfen, die heute fast gemütlich wirken: "Freiheit und Brüderlichkeit alles Scheißhausparolen."

In den Jahren nach der heißen politischen Phase hält Rühmkorf die politische Weltkugel eher nachlässig in Händen: "Ich will ja nicht hetzen / aber so rum betrachtet ist der Sozialismus eigentlich / mehr ne Sache fürs Jenseits." Übrig bleibt der hedonistisch gestimmte "lyrische Ich-Darsteller", in dessen Untergang "immer noch mehr Kraft war als in anderer Leute Sonnenuntergängen". Aber am Ende weiß der Trickartist Rühmkorf, dass nichts Besseres nachkommt, wenn er die Regale leerräumen muss. Die große lyrische Geste wird noch einmal beschworen - "bis der letzte Biß und der letzte Schiß in einem Reim zusammenfallen". Wo hat es das gegeben, dass einer über sechs Jahrzehnte seine Sinne so unablässig scharf stellen konnte? Rühmkorf ist also in der Klassikerloge angekommen. Die wird jetzt erst einmal geschlossen, da kommt so schnell keiner mehr rein.

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