Design:Stenografie eines Lebens

Design: Der Report des Jahres 2014: Doppelseite mit Daten aus New York. Grafik: Nicolas Felton

Der Report des Jahres 2014: Doppelseite mit Daten aus New York. Grafik: Nicolas Felton

(Foto: Nicholas Felton)

Der US-Designer Nicholas Felton verwandelt seit zehn Jahren seinen Alltag in wunderschöne Infografiken. Jetzt erscheint sein letzter "Feltron Annual Report".

Von Sandra Rendgen

Das sogenannte "Leben", was ist das noch mal genau? Unfassbar oft wird auf diese Frage ja die Liedzeile von John Lennon zitiert, wonach das Leben sich ereignet, während man damit beschäftigt ist, andere Dinge zu planen.

Und immer noch mag dieses Zitat erfrischen. Denn woran erinnern wir uns, wenn wir auf alltägliche Wochen und Monate zurückschauen? Wahrscheinlich an wenig.

Eine Bewegung, die sich selbst vermisst

Dieser Alltagsvergessenheit stemmt sich seit Jahren eine Bewegung entgegen, die sich Quantified-Self nennt. Mithilfe der Sensoren, die wir heute in unseren Smartphones mit uns herumtragen, und einer Vielzahl anderer Geräte, die von der Schrittzahl bis hin zum Herzschlag alles messen, will sie das Leben aufzeichnen.

Der amerikanische Designer Nicholas Felton hat sich seit 2005 einem wahren Mammutprojekt einer solchen Selbstbeobachtung gewidmet. Nun hat er den zehnten und letzten seiner "Feltron Annual Reports" vorgelegt.

Seine Berichte haben Felton zur Galionsfigur der Quantified-Self-Bewegung gemacht. Unter internetaffinen Designern und Bloggern wurde der "Feltron Annual Report" schnell bekannt - und die Tatsache, dass die Berichte als hochwertig gedruckte Broschüren in kleiner Auflage veröffentlicht wurden, hat ihre Aura noch verstärkt. Der Designer vertrieb die Berichte ausschließlich über seine Website, und nur von den 3000 Exemplaren der letzten Ausgabe sind noch einige für 30 Dollar zu haben.

Nicholas Felton und die digitale Biografie

"Die Aufzeichnung persönlicher Daten ist für mich eine Art Stenografie, um das Leben einzufangen", sagt Felton im Gespräch. Seine Feltron-Reporte seien dann wiederum der Versuch, das Eingefangene in eine anschauliche Erzählung zu überführen.

Damit das auch andere mit ihrem Leben machen können, hat der Designer nicht nur zwei Apps zur Aufzeichnung persönlicher Daten entwickelt, sondern mit der Timeline für Facebook ein Element geschaffen, das den Abermillionen Nutzern die Anordnung ihrer Posts im Sinne einer "Lebensgeschichte" ermöglicht.

Anders als die Fitnessapologeten der Quantified-Self-Bewegung, denen es vor allem um die Optimierung ihres Körpers geht, beschäftigte Felton die Frage, welche Informationen über sein Leben überhaupt interessant sind. In den ersten Jahren seiner Reports lag der Schwerpunkt auf der Suche nach allgemeinen Mustern - von der meistgehörten Musik bis zur Kartierung von Restaurantbesuchen.

Bewegungsprofil, Umfragen und Kommunikationsverhalten

Mit der vierten Ausgabe begann Felton sich thematisch zu fokussieren. Der Report von 2008 lieferte ein detailliertes Bewegungsprofil seiner Reisen.2009 konzentrierte er sich auf die Menschen, denen er begegnete, und überließ ihnen die Datenaufzeichnung, indem er jeden zu einer "Umfrage" einlud.

Im vorletzten Report von 2013 nahm sich der Gestalter einen der letzten noch nicht vollständig quantifizierten Lebensbereiche vor: sein Kommunikationsverhalten, also E-Mail, soziale Netzwerke, Telefon, aber auch Gespräche oder Briefe.

Quantität schafft Qualität

Von diesem New Yorker Alltag hebt sich der Report von 2010 ab. Der Designer widmete ihn seinem Vater, der in jenem Jahr verstorben war, und stellte aus den hinterlassenen Materialien einen Bericht über dessen Leben zusammen. Gordon Felton wurde als Sohn eines jüdischen Schneiders 1929 in Berlin geboren und emigrierte als Zehnjähriger nach England und später weiter in die USA.

Obwohl Felton in seinen Berichten über seinen Vater und über sich selbst nur sachliche Informationen wiedergibt, zeichnet sich die Kontur einer persönlichen Geschichte, aber auch die Lebenshaltung der Porträtierten ab.

Design: Jedes Jahr nahm sich der 1977 geborene Nicholas Felton ein anderes Thema seines Lebens vor, nur den Report aus dem Jahr 2010 widmete er seinem Vater.

Jedes Jahr nahm sich der 1977 geborene Nicholas Felton ein anderes Thema seines Lebens vor, nur den Report aus dem Jahr 2010 widmete er seinem Vater.

(Foto: Nicholas Felton)

Darin liegt die stille Qualität dieses radikal autobiografischen Projekts: dass sich in jedem von Feltons Berichten aus den sorgfältig ausgewählten und gestalteten Kennzahlen ein Eindruck der dargestellten Person gewinnen lässt.

Der Kopf schafft die Interpretation persönlicher Daten nicht mehr

Mit dem neunten Bericht sah Felton die möglichen Interpretationen seines Alltags fürs Erste erschöpft. Seinen abschließenden Report über das Jahr 2014 nutzte er daher, um eine Bilanz des Self-Tracking-Marktes zu ziehen, und deckte sich dafür mit allen Tracking-Apps ein, die er finden konnte.

Mit ihnen trug er einen Datensatz von über 600 000 Einträgen zusammen: "In den ersten Jahren hätte ich meine Daten theoretisch auch ohne Computer vollständig verstehen können. Heute geht das nur noch mit rechnerischen Methoden. Auf die Art muss man immer das große Ganze anschauen, es ist viel schwieriger, den einen kleinen Schnipsel zu finden, der lustig ist oder anrührend." Im Bericht verwebt er die von den Apps ausgeworfenen Datensätze zu einer Gesamtansicht und benennt Einsichten, die sich durch Querverbindungen gewinnen lassen (etwa in der Korrelation von Gewicht und Herzschlag).

Heute fordert Felton Emanzipation

Anders als 2005, als Felton mit seinen Reports begann, kann heute jeder seine persönlichen Daten aufzeichnen. Letztlich tracken wir alle - bewusst oder unbewusst - unser Leben, zum Beispiel, indem wir die Ortserkennung unserer Smartphones nicht abschalten.

Feltons Berichte haben diese sowieso vorhandenen Informationen in zwei Richtungen weitergedacht: Sie zeigen, wie sich durch eine künstlerische Bearbeitung aus persönlichen Daten nuancierte Erzählungen extrahieren lassen.

Und sie führen andererseits vor, welch klares Profil sich aus unseren Datenspuren ablesen lässt. Anlass genug füreinen emanzipierten Umgang mit unseren Daten. Denn für kommerzielle Anbieter sind diese ja weniger Stoff für tolle Geschichten, sondern vor allem von ökonomischem Interesse.

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