Der Tag, an dem AIDS publik wurde:Die Pest <p></p>

Vor zwanzig Jahren: "Wem die Stunde schlägt, ist ungewiss." Der Spiegel blickt mit einer Reportage in den Abgrund der medizinischen Katastrophe. Doch AIDS hat die Gesellschaft auch ein wenig humaner und freier gemacht.

GUSTAV SEIBT

(SZ v. 06.06.2003) Der 6. Juni 1983 war ein sonniger Montag. "Es hatte sich herumgesprochen, dass man sich unbedingt den ,Spiegel' kaufen müsse", so berichtet es der Roman "Bildnis eines Unsichtbaren" von Hans Pleschinski, der im vergangenen Herbst erschienen ist und nicht zuletzt ob seiner historischen Genauigkeit verdienten Beifall erhielt. "An diesem Junimorgen begann ein neues Zeitalter. Die Überschrift der Titel-Reportage lautete: ,Aids: Eine Epidemie, die erst beginnt.'" Pleschinski schreibt: "An diesem Frühlingsmorgen verdüsterte sich die Welt", und er zitiert den Spiegel-Text im Wortlaut: "Droht eine Pest?...Bei keinem Aidskranken wurde bisher eine Heilung beobachtet...Das heimtückische Leiden trifft zudem gerade jene, die über körperliche Attraktivität, Gesundheit und Potenz in besonders reichem Maße verfügen...Wem die Stunde schlägt, ist ungewiss."

SPIEGEL-Titel

Was würde nun kommen? Ghettoisierung der Randgruppen, Pogrome, polizeiliche Lösungen?

Von der rätselhaften Immunschwächekrankheit war schon mehr als ein Jahr in der Presse die Rede gewesen. Aber zur Epoche wurde Aids im deutschen Sprachraum am 6. Juni 1983 durch die Titelgeschichte des Spiegel. Sie machte jedem im Lande klar, dass sich mit der neuen Infektion eine Katastrophe von historischem Ausmaß anbahnte. Schaurig war alles, was das Nachrichtenmagazin zusammengetragen hatte: die Unbekanntheit des Erregers (das Virus war noch nicht identifiziert, Testverfahren gab es noch nicht), die Entsetzlichkeit des Krankheitsverlaufs, der man gänzlich hilflos gegenüberstand, die Ungewissheit über die Ausbreitungsmöglichkeiten. Viel mehr als dass Homosexuelle und Drogensüchtige zu den Hauptrisikogruppen gehörten, wusste man noch nicht; also richtete sich der Blick auf Sexualpraktiken und hygienische Verhältnisse. Sex und Drogen, neben dem Rock'n Roll die zwei anderen Hauptversprechen der Hippie-Bewegung, gerieten ins Visier eines tödlichen Verdachts und einer peinlichen Befragung.

Vor allem für die Schwulen brach eine Welt zusammen. Sie waren in Deutschland erst knapp anderthalb Jahrzehnte zuvor aus der Illegalität entlassen worden. Die Bundesrepublik hatte bis 1969 den in der Nazi-Zeit verschärften Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches beibehalten, der Unzucht unter Männern mit hohen Strafen belegte. Erst in den frühen siebziger Jahren konnte sich auch in Deutschland eine nicht mehr klandestine Welt der Homosexuellen etablieren, damals gern noch verschwörerisch "Subkultur" genannt. Sie wurde nun durch Aids zum Gegenstand seuchenmedizinischer Inspektion und darüber hinaus einer schaudernden Neugier. Hier gab es, so erfuhr man, Sex ohne Ende, fast ohne Wahl. Hier waren unterm Schummerlicht von Nachtbars und Badehäusern die Körper Gemeineigentum - die Schwulen hatten zur Lebensform ausgebildet, womit die Heteros in der "Kommune 1" nur für einen kurzen Moment provoziert hatten.

Nun wurden Angst und Schuldgefühle zum Preis der Freiheit. "Der Junimorgen veränderte sämtliche Regungen", berichtet Pleschinskis Roman. "Wenn man mit schönen Männern sprach, trat man ein paar Zentimeter zurück, nahm sie mit Entsetzen wahr. Die begehrten, die interessanten Menschen konnten die Todesengel sein." Es war ein Angstdruck, der über Jahre nicht wich: Ein Kuss konnte Selbstmord bedeuten, ein Schnupfen oder ein Fleck auf der Haut das erste Anzeichen des Todes. Die achtziger Jahre waren, was heute im Zeichen des sentimentalen Retros gern vergessen wird, eigentlich eine schreckliche Zeit. Sie begannen mit den Nachwehen des RAF-Terrorismus, der dem Land Rasterfahndung und Radikalenerlass gebracht hatte. Stagflation und Akademikerarbeitslosigkeit waren die ökonomische Erbschaft der siebziger Jahre. Waldsterben und atomarer Alarmismus beherrschten die Atmosphäre. SS-20 Raketen und Pershings schienen die Blockkonfrontation in eine neue heiße Phase zu bringen. Die Friedensbewegung verband die Menschen nicht nur zu kindergartenhaften Menschenketten, sondern auch in "Die Ins", Sterbespielen, bei denen sich Hunderte auf Plätzen wie Leichen niederlegten.

Die emanzipatorischen Hoffnungen aus Jahrzehnten schienen gescheitert, und dass eine konservative Regierung zu einer "geistig-moralischen Wende" aufrief, konnte nur schlimmste Befürchtungen erregen. "Angst" wurde zum deutschen Modewort. Dass sich seit 1981 Aids über die westliche Welt ausbreitete, passte gespenstisch gut in diesen verdüsterten Horizont. Die Krankheit schien eine definitive, geradezu naturgeschichtliche Widerlegung von Freiheit zu sein. Niemand, der damals jung war, kam um Erfahrungen schwersten Zweifels herum. Das Abtasten des eigenen Nackens nach Lymphknoten beim Aufwachen, bezeichnete nicht nur eine massenhaft verbreitete Neurose; es erschien wie die Signatur eines Epochenbruchs.

Was würde nun kommen? Ghettoisierung der Randgruppen, Pogrome, polizeiliche Lösungen? Eine Zeitlang schien alles möglich - das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat war gering bei den Jüngeren damals -, und die Hysterieanfälligkeit fand hier ihre plausibelsten Anlässe - auf allen Seiten: bei christlichen Politikern, die das "Ausdünnen von Randgruppen" durch erhöhte Sterblichkeit begrüßten, aber auch bei "Betroffenen", die jede rationale Erörterung ihres Verhaltens als Angriff auf ihre persönliche Freiheit ablehnten. Man übertreibt kaum, wenn man feststellt, dass in Deutschland Mitte der achtziger Jahre die Gefahr eines medizinischen Bürgerkriegs zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Randgruppen drohte: Seuchenpolizei gegen Untergrund. "Nach 1983 hätte es mich nicht erstaunt", lässt Pleschinski in seinem Roman den Erzähler sagen, "wenn Leute mich irgendwo auf der Straße, einfach weil ich da war, angepöbelt und verprügelt hätten. Wir galten als Pestherd innerhalb einer beständig gesunden Gesellschaft."

Dass es dazu nicht gekommen ist, gehört zu den großen Verdiensten der damaligen Bonner Regierung, vor allem der beiden Gesundheitsminister Heiner Geißler und Rita Süßmuth, die sich fachmännisch beraten ließen und vor allem den fundamentalistischen Forderungen ihrer scharfmacherischen bayerischen Schwesterpartei widerstanden. Die gesundheitspolitischen Weichenstellungen der Regierung - sie setzte auf Kooperation mit den Betroffenen, auf Beratung und Prävention - lenkten im Grunde nur zurück in einen historischen Normalzustand: Jede Gesellschaft der Geschichte hat mit unheilbaren Krankheiten leben müssen. Es war eine inzwischen überwundene Hybris der Moderne zu glauben, man habe vor allem die Infektionskrankheiten endgültig besiegt.

Nicht minder bedeutsam wurde der Beitrag der schwulen Gemeinschaft - nachdem die Politik ihr die Möglichkeit, ihn zu leisten erst einmal eingeräumt hatte. Die Homosexuellen lernten nicht nur gemeinsam zu feiern, sondern auch gemeinsam zu leiden und einander beizustehen. Die Randgruppe musste für sich die archaischen Tugenden des Mitleids und der Hilfe außerhalb der traditionellen Familien und Institutionen neu gewinnen, und sie bewältigte dieses historisch vorbildlose Unternehmen mit Bravour. Die von der Krankheit Befallenen wurden bis heute nicht ausgeschlossen, und die Notwendigkeiten von Pflege und Sterbebegleitung ließen neue Formen des Zusammenlebens wachsen. Schwule Männer, die heute über vierzig sind, sind Überlebende; sie mussten Ungezählte sterben sehen. Aber erst dabei wurde eine Freiheit befestigt, die den heute Jungen allzu fraglos erscheint.

Gelingen konnte das nur unter den keineswegs selbstverständlichen Bedingungen von Wohlstand und Liberalität. Das Gesundheitswesen hat den unerwarteten Schock durch die neue Krankheit überstanden und sie so einzudämmen geholfen. Die Gesellschaft war souverän genug, einen Teil ihrer Schamhaftigkeit abzulegen, damit auch dem Letzten im Lande klar wird, was er tun kann oder lassen soll. Wo das Geld und solche Offenheit fehlen, in Afrika, wütet die Seuche in jenen Ausmaßen, die man hierzulande vor zwanzig Jahren in den schlimmsten Albträumen befürchtete.

Zwanzig Jahre nach jenem schrecklichen Montag könnte man hierzulande also an ein happy ending glauben. Eine medizinische Katastrophe hat die Gesellschaft ein wenig humaner und freier gemacht. Heute hat Berlin einen schwulen Bürgermeister, und außer Frank Steffel kümmert das niemanden mehr. Am Rand des Christopher-Street-Days winken die Omas aus dem Schwarzwald den Männern zu. Am Ende spricht der Bundestagspräsident mahnende Worte an der Siegessäule. Ist der Fortschritt dauerhaft? Natürlich nicht. Keine Errungenschaft der Geschichte ist sicher, darum müssen Daten wie jener Montag im Gedächtnis bleiben.

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