·:Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

Woher kommt eigentlich das Wort? Wie dachten die Menschen in Altertum und Mittelalter darüber? Wie betteten sie sich? Wann schliefen sie? Was sagen Kunst und Philosophie dazu? Hier ist sie, die kurze Geschichte des Schlafes.

Von Bernd Graff

Über den Schlaf spricht man nicht. Man schläft einfach. Denkste! Spätestens, wenn man die Erfahrung von zermürbender Schlaflosigkeit gemacht hat, beginnt man, sich über den Schlaf zu wundern. Wieviel Zeit man doch damit zubringt - und zubringen muss.

·: Heinrich Füssli: Der Nachtmahr (1782)

Heinrich Füssli: Der Nachtmahr (1782)

Und weil nahezu alle Menschen zu allen Zeiten darüber nachgedacht haben, kann man durchaus eine Geschichte des Schlafs rekonstruieren. Denn: Die unterschiedlichen Kulturen in Raum und Zeit haben und hatten niemals dieselben Vorstellungen von dem, was uns mit Macht übermannt - oder uns bei seinem Ausbleiben qualvoll peinigt.

Das unbekannte Phänomen

Schlaf entsteht, wenn die in den Gliedern zerstreute Seelische Kraft sich zum Teil nach außen getrieben entfernt.

Wenn wir zu Bett gehen und einschlafen, geraten wir in einen Zustand, der sich völlig von unserem Bewusstsein unterscheidet und einige Stunden andauert. Beängstigend, eigentlich. Denn wir sehen, hören und fühlen nicht mehr, reagieren nicht sofort auf die Signale der Umwelt. Die Welt des Schlafens und die Welt des Wachens sind tatsächlich so verschieden, dass man glauben könnte, jeder lebe in zwei Welten.

Man merkt es etwa dann, wenn wir plötzlich aus dem Schlaf gerissen werden und nicht mehr so genau wissen, wo und wer wir sind. Marcel Proust hat diese Irritation in der "Verlorenen Zeit" geschildert: "... Und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht, wo ich mich befand und deshalb im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war; ich verspürte nur, ursprünglich, elementar, jenes Daseinsgefühl, wie es in einem Tier beben mag; ich war entblößter als ein Höhlenmensch; doch dann kam mir die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, wohl aber an einige andere, an denen ich gewohnt hatte und wo ich hätte sein können - gleichsam als Hilfe von oben her, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich von selbst nicht herausgefunden hätte; in einer Sekunde überflog ich Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte, und die verschwommen und flüchtig geschauten Bilder von Petroleumlampen und von Hemden mit Umlegekragen fügten nach und nach die originären Züge meines Ich wieder zusammen." Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Nächstes Kapitel: Woher die Wörter "Schlaf", "Schlummer", "Dösen", "Nickerchen" kommen

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

Die Wörter "Schlaf", "Schlummer", "Dösen", "Nickerchen"

·: Aus Andy Warhols "Sleep"

Aus Andy Warhols "Sleep"

"Tod ist alles, was wir im Wachen sehen, und Schlaf, was im Schlummer." .

"Schlaf" ist ein Wort altgermanischen Ursprungs, eine Nominalbildung des Verbs "schlafen" (gotisch "sleps" und alt- und mittelhochdeutsch "slaf"). Auch das niederländische "slaap" und englische "sleep" gehen darauf zurück.

"Schlafen" bedeutet ursprünglich "schlapp werden" und ist mit dem Eigenschaftswort "schlaff" verwandt.

Im Wort "Schlummer" steckt die indogermanische Wurzel "slu" (schlaff, herabhängend). Das Wort "slummern" (noch im englischen: to slumber) taucht erst im Mittelhochdeutschen und Niederdeutschen auf und wird im 16. Jahrhundert von Martin Luther in die Schriftsprache eingeführt. "Dösen" (englisch: to doze) wird als "gedankenlos dasitzen, halb schlafen" definiert. Das Verb "dösen" taucht erst im 19. Jahrhundert auf und kommt aus dem Niederdeutschen ins Schriftdeutsche. Verwandt ist es mit den Hauptwörtern "Dusel" und "Dunst".

Dösen bezeichnet einen geistig vernebelten Zustand. In der Umgangssprache verwendet man gelegentlich den Ausdruck "ein Nickerchen machen". "Nicken" entstammt dem Mittelhochdeutschen, wo "nücken" so viel wie "nicken, stutzen, leicht schlummern" bedeutete. Wenn jemand schläft, sagt man auch "er pennt". Das Wort stammt aus der Gaunersprache und ist wohl eine Ableitung von "Penne" (= einfaches Nachtlager, Herberge).

Von "Schlaf" leiten sich auch verschiedene Begriffe ab, die in mehr oder weniger engem Bedeutungszusammenhang stehen. So wird "entschlafen" für "sterben" verwandt. Etwas "beschlafen" oder häufiger "überschlafen" heißt, etwas bis zum nächsten Tag bedenken.

Zum "Beischlaf" (das Wort stammt aus dem 15. Jahrhundert) kommt es, wenn Mann und Frau "zusammen schlafen". Wie beim Ausdruck "entschlafen" ist auch hier ein Vorgang gemeint, der mit dem eigentlichen "schlafen" nur relativ direkt zusammenhängt. Auch die "Schläfe" leitet sich von "Schlaf" ab, denn sie ist der Teil des Kopfes, auf welchem Schlafende häufig liegen. Einer, der zu lange schläft, wird als "Schlafmütze" bezeichnet. Dieser aus dem 17. Jahrhundert stammende Ausdruck bezog sich auf die Nachtmütze, die man beim Schlafen trug. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird er in unserem heutigen, übertragenen Sinne gebraucht.

Die Wurzel "son" oder "somn" taucht in verschiedenen indogermanischen Sprachen im Schlafes auf: französisch "sommeil"; italienisch "sonno"; spanisch "sueño"; portugiesisch "somno"; rumänisch "somnul", schwedisch "somn"; dänisch "sovn"; russisch "son"; polnisch "sen"; bulgarisch "sun"; serbo-kroatisch "san"; tschechisch "spanek"; hindi "sona";

Nächstes Kapitel: Der Schlaf als Bruder des Todes

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

·: Die Brüder Hypnos und Thanatos (r)

Die Brüder Hypnos und Thanatos (r)

Hypnos-Thanatos: Der Schlaf als Bruder des Todes

"Wie nun? fuhr er fort, ist dem Leben auch etwas entgegengesetzt, wie dem Wachen das Schlafen? Gewiß, sagte er. Und was? Das Totsein, sagte er.

In der griechischen Sagenwelt sind der sanfte Schlaf, Hypnos, und der mitleidlose Tod, Thanatos, miteinander verwandt: Sie sind beide Söhne der Nachtgöttin Nyx.

Der römische Dichter Ovid nannte den Schlaf ein "Abbild des Todes". "Er wohne in einer Höhle am Ufer des Lethebaches, wohin niemals die Sonne gelange." Auch für die Germanen waren Schlaf und Tod Geschwister, die beide als "Sandmann" bezeichnet wurden, was wohl als "Sendbote" zu deuten ist, aber auch das Müdigkeitsgefühl von Kindern umschreibt, die "Sand in den Augen" haben.

Die Ruhe des Schlafenden war den Menschen immer schon unheimlich.

Man ist schutzlos - und wird man aus diesem Zustand auch wieder erwachen? Darum wohl das Nachtgebet, denn: "Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr behütet dich" (Psalm 121,4.5)." Im Alten Testament ist bereits im Schöpfungsbericht von Schlaf die Rede. Gemeint ist nicht der gewöhnliche, sondern ein außergewöhnlicher, tiefer Schlaf (hebräisch "tardema"), in welchen Gott Adam versetzt, um ihm zur Erschaffung Evas eine Rippe zu entnehmen.

Schlaf als Scheintod ist ein verbreitetes Motiv in Sage, Dichtung und Märchen. In Shakespeares Drama nimmt Julia eine Droge ein, um durch sie in einen mehrtägigen, todähnlichen Schlaf zu fallen. Das Unglück will es, dass nicht nur die Familie, sondern auch ihr Geliebter Romeo sich täuschen lässt. Besser ergeht es Schneewittchen, das zwar schon scheintot im Sarg liegt, aber im entscheidenden Augenblick doch noch erwacht.

Den "Schlafrekord" hält Dornröschen. Hier ist es nicht eine Droge, sondern eine an sich harmlose Verletzung, die sie in einen vorhergesagten hundertjährigen Schlaf fallen lässt. Nicht nur sie selbst schläft ein, sondern mit ihr der gesamte Hofstaat, mitsamt Pferden, Hunden, Tauben und Fliegen. Pflanzen sind offensichtlich dem Zauber entzogen, denn eine Dornenhecke überwuchert das ganze Schloss.

Umgekehrt haben die Menschen den Tod darum auch als Schlaf betrachtet. "Und ist (das Totsein) nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn.", so Platon in seiner Verteidigung des Sokrates.

Nächstes Kapitel: Ein Zustand der Gottesnähe oder des Unwissens?

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

·: Kernelpanik bei fehlerhaftem Aufwachen eines Computers

Kernelpanik bei fehlerhaftem Aufwachen eines Computers

Der Schlaf - Ein Zustand der Gottesnähe oder des Unwissens?

"Denn wir schlafen entweder in Folge des Unvermögens wahrzunehmen, oder wir sind unvermögend wahrzunehmen in Folge des Schlafes."

In den östlichen Philosophien und Religionen wurde der Schlaf als der eigentliche, wahre Zustand des Menschen dargestellt, in dem Individuum und Universum eins sind. Der chinesische Philosoph Chuang Tzu (300 v. Chr.) schrieb: "Alles ist eins; im Schlaf ist die Seele ungestört und aufgenommen in diese Einheit; im Wachen hingegen ist sie abgelenkt und sieht die verschiedenen Gegebenheiten der Welt."

In den altindischen philosophischen Texten der Upanishaden wurden vier Seinsformen unterschieden: 1. Der Wachzustand, der allen Menschen gemeinsam ist; 2. der Zustand des Träumens; 3. der Zustand des Tiefschlafs; 4. der "vierte" (überbewußte) Zustand des eigentlichen Selbst. Der Tiefschlaf (susupta) galt als jener Zustand, in welchem man nichts begehrt und nicht träumt. Er wird darum mit dem eigentlichen Selbst in Zusammenhang gebracht: "Wenn man tief schläft, ruhig und heiter, und keinen Traum sieht, das ist das Selbst (Atman), das ist das Unsterbliche, Furchtlose, das ist Brahma."

In der jüdisch-christlichen Überlieferung wird der Schlaf selten als ein erstrebenswerter Zustand angesehen. So finden wir schon im Alten Testament die Mahnung: "Liebe den Schlaf nicht, dass du nicht arm werdest; lass deine Augen wacker sein, so wirst du Brot genug haben" (Sprüche 20,13).

Nur der durch harte Arbeit redlich verdiente Schlaf ist ein guter Schlaf: "Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß, er habe wenig oder viel gegessen; aber die Fülle des Reichen lässt ihn nicht schlafen." (Prediger 5,11.) Den Schlaf als Sinnbild der Trägheit, des dumpfen Unwissens und Unglaubens finden wir in der Verteidigungsrede des griechischen Philosophen Sokrates vor dem Gericht in Athen:

"Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen."

Im Christentum wird das Aufwachen oft im übertragenen Sinne verstanden. Im Neuen Testament finden wir beispielsweise den Aufruf: "Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten." (Epheser 5,14.)

Auch in östlichen Kulturen wurde das Erwachen aus dem Schlaf in einem ähnlich übertragenen Sinne verwendet, wie zum Beispiel der Name "Buddha" zeigt: "der Erleuchtete, der Erweckte", wobei sich "Buddha" von "budh" (= wecken) ableitet.

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

·: Schlafende indische Königin mit Dienerinnen

Schlafende indische Königin mit Dienerinnen

Nächstes Kapitel: Von der Philosophie zur Naturwissenschaft.

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

Von der Philosophie zur Naturwissenschaft.

Derartige Bedenken sind ganz ähnlich wie die Frage, ob wir eigentlich jetzt schlafen oder wachen. Solche Bedenken laufen alle auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Forderung, dass für jedes ein begrifflicher Grund angegeben werden müsse. Man sucht nach einem Ausgangspunkt und will diesen auf dem Wege des Beweises gewinnen.

Aus der altgriechischen Zeit sind Äußerungen von Philosophen und Ärzten überliefert, in denen Erklärungen für den Ursprung des Schlafs angeführt werden.

Empedokles von Agrigent, der Schöpfer der Vier-Elemente-Lehre, nach der es nur ein Mischen und Entmischen der Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde gibt, betrachtete den Schlaf als Folge einer mäßigen Abkühlung der im Blut befindlichen Wärme, beziehungsweise als die Absonderung des Elements "Feuer". Hippokrates, der "Vater der Heilkunst", schloss aus der Abkühlung der Gliedmaßen, dass der Schlaf auf der Flucht von Blut und Wärme ins Innere des Körpers beruhe.

Für Aristoteles lag die unmittelbare Schlafursache in der aufgenommenen Nahrung, von der er annahm, sie gebe eine Ausdünstung in die Adern ab. Diese Dünste würden dann von der Lebenswärme in den Kopf getrieben, sammelten sich dort an und verursachten Schläfrigkeit. Alsdann kühlen sie sich im Gehirn ab, sinken wieder in tiefere Körperteile zurück und entziehen dabei dem Herzen Wärme. Dies führe schließlich zum Schlaf, der so lange andauere, bis die Nahrung verdaut sei und das für die oberen Körperregionen bestimmte reine Blut sich vom unreinen geschieden habe.

Der Aristoteles-Interpret Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert n. Chr.) knüpft an die Wärmetheorie an und argumentiert, durch die Ermüdung werde der Körper ausgetrocknet und verliere dadurch an Wärme, was schließlich zum Schlaf führe.

Im Mittelalter (12. Jahrhundert) betonte Hildegard von Bingen, die Verfasserin medizinischer, naturkundlicher und mystischer Schriften, die Parallelen zwischen Schlaf und Nahrung und brachte beide in Zusammenhang mit dem Sündenfall.

Der Mensch bestehe aus zwei Teilen: aus Wachsein und Schlaf. So werde auch der menschliche Körper auf doppelte Weise ernährt, nämlich durch Speise und Ausruhen. - Vor dem Sündenfall sei Adams Schlaf ein "Schlaf zur Versenkung" (="sopor"), also ein "tiefer", kontemplativer Schlaf, und die Nahrung nur eine Nahrung zum Anschauen gewesen - alles nur, um den Menschen geistig-seelisch zu erfreuen und zu erbauen. Der Sündenfall habe seinen Körper schwach und gebrechlich gemacht wie den eines Toten im Vergleich zu einem Lebenden. Jetzt habe der Mensch Stärkung durch Nahrung und Schlaf nötig. Der Schlaf sei zu einem normalen Zustand bei allen Menschen geworden. Wie die Nahrung das Fleisch wachsen lasse, so erhole sich und wachse das Mark ("medulla"), das durch Wachen verdünnt und geschwächt werde, im Schlaf wieder heran."

Im 16. Jahrhundert wollte der Arzt Paracelsus die Medizin wieder näher an die Natur heranführen. Er meinte, der natürliche Schlaf dauere sechs Stunden, beseitige die durch Arbeit aufgetretene Ermüdung und erquicke den Menschen. Er empfahl, man sollte weder zu viel noch zu wenig schlafen, sondern sich nach der Sonne richten, mit ihr aufstehen und bei Sonnenuntergang schlafen gehen.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde für die Erklärung des Schlafs oft eine eigenartige Verbindung von physiologischen Konzepten und Seelenlehre herangezogen. So meinte der britische Arzt und Physiologe Alexander Stuart, der Schlaf sei die Folge eines Knappwerdens des "animalen Lebensgeistes" ("spiritus animales"), der durch Arbeit und Bewegung erschöpft und ausgezehrt werde. Für den niederländischen Arzt Herman Boerhaave wird der "spiritus nervosi" durch das Gehirn aus dem Blut abgesondert. Der Schlaf komme dadurch zustande, dass die Flüssigkeit ("liquor") im Gehirn in ihrer Bewegung gehindert werde, sich verbrauche und deshalb feine Gefäße und Nerven, die vom Gehirn zu den Sinnesorganen und willkürlichen Muskeln zögen, nicht mehr füllen könne.

Die Theorie hat mit jener des Schweizer Arztes und Naturforschers Albrecht von Haller (1708-1777) gewisse Ähnlichkeiten, der meinte, das im Kopf verdichtete Blut komprimiere das Gehirn und schneide dadurch den Weg des "spiritus" in die Nerven ab. Für den deutschen Physiologen Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815) spielte der damals neu entdeckte Sauerstoff eine besonders wichtige Rolle, indem er aus der eingeatmeten Luft den "Lebensäther" abscheide. Über das Blut gelange dieser ins Gehirn, wo er abgetrennt und gespeichert werde. Von den "Hirnkräften" in die Nerven und Muskeln getrieben, rufe er "animale Bewegung" hervor. Ermüdung führe zu einem Mangel an Lebensäther, doch im Schlaf könnten die Vorräte wieder aufgefüllt werden.

Mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturphilosophie rückten vorübergehend vermehrt mystische Konzepte in den Vordergrund. So schrieb Philipp Franz von Walther, Professor für Physiologie und Chirurgie: "Der Schlaf ist eine Hingebung des egoistischen Seyns in das allgemeine Leben des Naturgeistes, ein Zusammenfließen der besonderen Seele des Menschen mit der allgemeinen Naturseele."

Die Entwicklung der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert führte zu Theorien, die den Schlaf ausschließlich auf physiologischer und chemischer Grundlage zu erklären suchten.

So sah zum Beispiel Alexander von Humboldt die Ursache des Schlafs in einem Sauerstoffmangel, der Bonner Physiologe Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger in der verminderten Aufnahme von Sauerstoff in die "lebenden Gehirnmoleküle". Andere meinten, die Hauptursache liege in einer Blutleere der Hirnrinde, im Druck aufs Gehirn, in der Quellung der Nervenzellen oder in einer Umlagerung elektrischer Ladung in den Ganglien.

Der deutsche Physiologe Wilhelm Thierry Preyer vertrat in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts die Meinung, Ermüdungsstoffe absorbierten den Sauerstoff aus dem Blut, der deshalb für die Funktion des tätigen Hirns nicht mehr zur Verfügung stehe. Er glaubte diese Stoffe als Milchsäure und Kreatin identifizieren zu können.

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

·: Plakat des Klassikers

Plakat des Klassikers

Nächstes Kapitel: Schlafräume und Schlafzeiten: Die Soziologie des Schlafs

Der Schlaf - ein Menschheits-Rätsel

Schlafräume und Schlafzeiten: Die Soziologie des Schlafs

Denn sobald die Leute ihrem Beruf mit Eifer hingegeben sind, liegt ihnen am Essen und Schlafen weit weniger, als daran, dass sie's weiter bringen in dem, was ihres Amtes ist.

Heutzutage findet man in den meisten Wohnungen und Häusern separate Schlafzimmer. Das ist freilich eine relativ neue Errungenschaft. Noch im späten Mittelalter schliefen viele Menschen gemeinsam in einem Raum, der nicht nur zum Schlafen diente. Die Dienstboten schliefen häufig in der Nähe ihrer Herrschaft, um jederzeit zur Verfügung zu stehen. Ein eigentliches Schlafzimmer finden wir erstmals an königlichen Höfen. Berühmt ist der Schlafraum des französischen Königs Ludwigs XIV., der nicht nur die räumliche Mitte des Palastes, sondern so etwas wie das Herrschaftszentrum des Königreichs bildete. Das morgendliche "Lever du Roi" - der Empfang durch Seine noch im Bett ruhende Majestät - war das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Tages.

Die Einrichtung eines eigentlichen Schlafzimmers wurde dann von der adligen Oberschicht übernommen und erschien erst später in den bürgerlichen Häusern.

Schlafgelegenheiten waren früher sogar in Gaststätten zuweilen ein Problem. So wird von deutschen Badeorten des 17. Jahrhunderts berichtet, wo "aus Mangel an Schlafstellen die Hälfte der Gesellschaft nur bis Mitternacht schlief, während die andere Hälfte, die bis dahin den Vergnügungen nachging, alsdann zur Ablösung erschien".

Auf dem Land blieben die alten Schlafgewohnheiten noch lange erhalten. Es gibt einen Bericht über bretonische Bauern im 19. Jahrhundert, in dem unter anderem beschrieben wird, dass alle Familienmitglieder und Bediensteten in einem einzigen großen Bett schliefen. Durchreisenden Besuchern habe man gastfrei einen Platz im gemeinsamen Bett angeboten.

Die im 19. Jahrhundert zunehmende Distanzierung von Frauen und Männern ist auch aus den Schlafgewohnheiten ersichtlich.

In vornehmen Häusern hatten nun der Herr und die Dame des Hauses ein eigenes Ankleidezimmer, die Kinder ein Kinderzimmer. Es gab "das Zimmer der Söhne" und das der Töchter.

Waren die Schlafräume in älterer Zeit leicht zugänglich gewesen, so wurden sie nun abgeschlossener und gehörten immer mehr zum Intimbereich. Die sich ändernde Einstellung spiegelt sich auch in den Gasthäusern und Spitälern wider, wo Massenlager seltener und Einzelzimmer immer häufiger wurden.

Doch war nicht nur der Schlafort, sondern auch die Schlafzeit weniger starr festgelegt als heute. Es sind Abbildungen aus dem ausgehenden Mittelalter überliefert - beispielsweise Gemälde der flämischen Schule -, auf denen häufig Menschen zu sehen sind, die tagsüber neben Häusern, an Wegen oder auf Feldern schlafen.

Noch heute zeigen sich Reisende in Ländern wie Indien beeindruckt von den vielen Menschen, die tagsüber schlafend im Freien zu sehen sind. In Europa verbreitete sich hingegen immer mehr die Auffassung, dass sowohl zu gewissen Tageszeiten als auch an gewissen Orten nicht geschlafen werden sollte. So wird zum Beispiel das Schlafen auf Straßen und anderen öffentlichen Orten als ordnungsstörend empfunden.

In Großstädten wie Paris wird der Schlaf der Clochards unter den Brücken oder in Metrostationen gerade noch geduldet. Dagegen ist es aber auch für "feinere" Leute durchaus akzeptabel, in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie in der Eisenbahn oder im Flugzeug, einzunicken.

Der Schlaf tagsüber, der für uns zum Inbegriff der Faulheit und Arbeitsscheu geworden ist, hat im 19. Jahrhundert in Iwan Alexandrowitsch Gontscharows berühmtem Roman "Oblomow" ein bleibendes literarisches Denkmal erhalten: "Das Herumliegen war für llja lljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Müden, noch ein Genuss, wie für einen Faulpelz: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war (und er war fast immer zu Hause), lag er stets im Bett und stets in dem gleichen Zimmer, wo wir ihn vorfanden, das ihm gleichzeitig als Schlafgemach, Kabinett und Salon diente."

Diese Übersicht entstand unter Zuhilfenahme von: A. Borbély, Der Schlaf im Wandel der Zeit. © 1984 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart

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