Der neue Walser: "Angstblüte":Obszöne Genialität

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In seinem neuen Roman "Angstblüte" zeigt Martin Walser, wie man sich eine wunderbar schamlose Altherrenerotik vorstellen muss, und warum es sich lohnt, das Hohe Lied des Zinseszinses anzustimmen.

Burkhard Müller

Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Christa Wolf, Martin Walser: diese vier sind sämtlich schon rund ein halbes Jahrhundert im Geschäft und stellen je für sich das dar, was man mit einer Mischung aus Spott, Neid und Anerkennung den Großschriftsteller nennt. Aber nur einer von den vieren erweckt, wenn er mal wieder ein Buch ankündigt, echte Neugier: Martin Walser. Denn nur bei dem weiß man wirklich nie, was kommt. Und es kam: der kaum verhohlene Todeswunsch gegen einen bestimmten Literaturkritiker; das vor keiner Drastik zurückschreckende Lebensprotokoll einer liebessüchtigen älteren Dame; die Affäre eines älteren Herren, der sich keine Mühe gab, irgend ein anderer zu scheinen als der Autor selbst, mit einer sehr viel jüngeren Frau.

Zyniker haben in diesem Milieu und Metier keine Chance; Kritiker auch nicht. (Foto: N/A)

Und jedesmal gibt es höchst persönlichen Ärger, der das Bett der Literatur verlässt, um sich ins Gefilde der Politik, der Gerichtsbarkeit oder mindestens des intimen Klatschs zu ergießen. Nicht schlecht für einen Veteranen mit thematisch eher begrenztem Umkreis, der sich die Empfehlung Thomas Manns - Erfinde nicht, sondern mach was aus dem, was du hast! - von Grund auf zu eigen gemacht hat. Im Zentrum steht, mit der denkwürdigen Ausnahme der Susi Gern im ¸¸Lebenslauf der Liebe" (2001), immer ein Mann, dessen große Wachsamkeit für das, was bei uns der Fall ist, und noch größere Ansprechbarkeit in erotischen Dingen sich harmonisch, wenngleich nicht unbedingt glücklich, mit einem ganz und gar konventionsfrommen Sozialprofil verbindet; sein jeweiliges Alter steigt parallel zu dem seines Autors und ist derzeit in den Siebzigern angelangt.

Jetzt also, im neuen, an diesem Freitag erscheinenden Roman ¸¸Angstblüte" (Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, 477 S., 22,90 Euro), bekommt der Walser-Leser es mit Karl von Kahn zu tun, einem Anlageberater in München, soeben siebzig geworden, der mit der jüngeren, von Haus aus reichen Helen verheiratet ist (¸¸aus Paritätsgründen", wie es in einschlägigen Anzeigen zu heißen pflegt), ihres Zeichens Ehetherapeutin. Um jede Ehe ringt sie, als ginge es um das Schicksal der Welt. Nicht retten kann sie aber ihre eigene, denn ihr Gatte lässt sich von den Reizen der viel jüngeren Joni Jetter einfangen. Joni: wirklich und wahrhaftig ist das ihr Name, wie der des weiblichen Schoßes im indischen Tantrismus. Walser und sein Protagonist überlassen sich, nicht zum ersten Mal, einer wunderbar schamlosen Altherrenerotik, die, da sie aufs Ganze geht, über das Peinliche souverän hinauswächst. Der Altersunterschied kommt da gar nicht in Betracht: Vor Walser sind vierzig Jahre wie ein Tag.

Karl gelingt es, die Nachwuchsschauspielerin mit den Brüsten und dem Mund von Brigitte Bardot zu bezaubern, indem er ihr zuhört wie noch kein Mann vor ihm. Das kann er, das ist sein Beruf. Mit jedem seiner Klienten oder Mandanten (man weiß kaum, wie dieses Verhältnis angemessen zu benennen wäre) schließt er sich wie zu einem alten Paar zusammen. Geduldig spürt er aus dem Anderen heraus, was der wirklich will, um es ihm dann zu raten; für diesen so demutsvollen wie kreativen Akt ist er dauernder Dankbarkeit gewiss. Mit circa sieben Partnern, die zusammen ein Anlagevermögen von fünfzig bis siebzig Millionen Euro repräsentieren, lässt es sich bereits auskömmlich wirtschaften. Dazu gehört etwa die dreimal geschiedene Leonie von Beulwitzen, nur von bösen Zungen eine ¸¸Scheidungsgewinnlerin" genannt, oder die dreifache Witwe Amei Varnbühler-Bülöw-Wachtel. Sie, die mehr als Neunzigjährige, will jeden Montag Punkt neun Uhr morgens angerufen sein.

Da sie gegen den Alterszucker zu kämpfen hat, sympathisiert sie mit Anlagen in der Pharmabranche; hier hat Karl ihr Substanz zu bieten. ¸¸Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärts steigenden Melodie, so dass die Schlusssilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei -l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts."

Kinder und alte Leute brauchen Rituale, um sich in den Gang der Welt eingebunden zu fühlen. Auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren die Profis mit familiärer Struktur. Durch sein vollkommen altmodisches Vorgehen hat Karl von Kahn in den Jahren von 1991 bis 2000 eine durchschnittliche Rendite von 28,7 Prozent erzielt.

Zyniker haben in diesem Milieu und Metier keine Chance; Kritiker auch nicht. Walser hat von jeher eine unvergleichliche Begabung dafür besessen, in Figuren, die jeder Normalwahrnehmung als schlechthin abstoßend erscheinen müssen, in Wirtschaftskapitäne, Narzissten und Opportunisten jeder Couleur, plagende und geplagte Ehefrauen, förmlich hineinzukriechen. Dies geschah und geschieht mit solcher Rückhaltlosigkeit, dass man es leicht als Satire missdeuten konnte. Auch Walser selbst war einst diesem Missverständnis erlegen, indem er für einige Zeit in die ideologische Haut der DKP schlüpfte, ehe er etwa ab Mitte der siebziger Jahre den Schwenk ins Private tat - zur Enttäuschung seiner alten Weggefährten, doch zum Entzücken des Buchhandels, der ab der Novelle ¸¸Ein fliehendes Pferd" (1978) seine Walser-Umsätze verzehnfachte.

Nunmehr jedoch, wo das Werk sich zu runden begonnen hat, lässt sich erkennen, dass, was sich damals als Bruch darbot, in Wahrheit aus einem Guss war: unverwandelt hat Walser seinen Figuren die Treue gehalten. Sie äußert sich vor allem darin, dass er sich von dem starken Gefühl des Rechts, das in jeder von ihnen lebt, hinreißen lässt, ohne Eigenes dazu meinen zu wollen. Diese ¸¸Zustimmungssucht", die Walser bei sich selbst diagnostiziert hat, müsste man, wo man sie bei einem leibhaftigen Menschen trifft, sicherlich als Willens- und Charakterschwäche ansprechen; der Autor Walser aber handhabt sie als sein feinstes Instrument.

Anders wäre es ihm unmöglich, an die soziologische Realität des neuen Kapitalismus heranzukommen. Die auf ihre Weise durchaus fruchtbare ¸¸Heuschrecken"-Debatte hat im letzten Jahr ins allgemeine Bewusstsein gehoben, dass wir es nicht mehr mit der klassischen Spekulation zu tun haben, sondern mit der weit rasanteren Spekulation auf die Spekulation. Der Couponschneider ist tot. Wo nehmen die Turbo-Windbeutel in den Equity Fonds das viele Geld her, das ihnen nicht gehört? Von Leuten wie Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel natürlich, die man behutsam bei der Hand nehmen muss, um ihnen zu erklären, dass ein wöchentlich aktualisiertes ¸¸Portfolio" ebenso sicher, doch weit ergiebiger sei als die von ihnen instinktmäßig bevorzugte Hortbildung.

Karl von Kahns engster Freund ist der Kunsthändler Diego, von dem zum Beispiel gesagt wird, er habe eine bestimmte Kundin im Lauf vieler Jahre allmählich von Warhol zu Klee ¸¸hinentwickelt". Er malt nicht, er sammelt nicht einmal, aber ein Künstler ist er doch. Ganz ähnlich sieht auch Karl von Kahn seine Tätigkeit. Kein Berufsstand kommt ohne das ihm eigentümliche Berufsethos aus; im Falle des Anlagenvermittlers besteht es in der Andacht vor dem Geld - nicht dem Geld als Zahlungsmittel, das banalerweise immer weniger wird, sondern dem echten Geld, mit dem sich das Wunder seiner Vermehrung begibt.

Ein langes Zitat möge verdeutlichen, was sich mit gutem Grund als der Gehalt, wenn man will: die Dividende des Buchs ansehen lässt: ¸¸Ja, jubelte Karl, die Kunst. (. . .) Kunst um der Kunst willen weiß nicht mehr, ob sie noch Kunst ist oder schon Wahn. Politik um der Politik wäre asozial, zynisch, absurd oder verbrecherisch. Wissenschaft um der Wissenschaft willen wäre menschenfeindlich. Geld vermehren um des Geldvermehrens willen entgeht diesen Gefahren. Es produziert. Es produziert Wert. Und da ist keine philosophische Diskussion nötig, was das für ein Wert sei. Dafür steht die Zahl.

Die Zahl ist die Hauptsache. Die Zahl ist der einzig gültige Ausdruck des Geldes. Die Zahl ist der Sinn des Geldes. Die Zahl ist das Geistigste, was die Menschen haben, was über jede Willkür erhaben ist. Die Zahl ist kein Menschenwerk. Die Menschen haben die Zahl nicht geschaffen, sondern entdeckt. Also sage ich dir zum Schluss: Das Absahnen, Gewinnmitnehmen samt Geldausgeben ist die triviale Dimension. Ich sage verständnisvoll: die irdische Dimension. Wer aber Geld spart und verzinst, erlebt den ersten Schauer der Vermehrung. Ich sage: der Vergeistigung. Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes. Wenn der Zins dann wieder verzinst wird, wenn also der Zinseszins erlebt wird, steigert sich die Vergeistigung ins Musikgemäße. Das ist kein Bild, kein Vergleich, das ist so. Die Zinseszinszahlen sind Noten. Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion. (. . .) Spürbar wird Gott."

Dieser Hymnus trifft viel präziser als alles, was eine weithin theorielose, im moralischen Maulen befangene Linke, die ¸¸Eo-ipso-Bessermenschen", wie sie im Buch nicht ohne Ressentiment bezeichnet werden, heute hinkriegt. Das könnte von Marx sein. Da es aber nicht von Marx ist, sondern von Walser/Kahn, da es statt dem Geist der Kritik vielmehr der reinen Hingabe entspringt, wiegt es noch schwerer. Was sich wie eine grässliche Blasphemie ausnimmt, nennt die immanente Metaphysik, die heute die Welt beherrscht, genau beim Namen.

¸¸Der Anblick gibt den Engeln Stärke, / Da keiner ihn ergründen mag", heißt es in Goethes ¸¸Faust" über die gleichfalls in der Zahl sich ausdrückende tönende Harmonie der himmlischen Sphären. Einen solchen Engel des Geldes zum Helden zu machen, war der buchstiftende Einfall Walsers, dem man eine obszöne Genialität bescheinigen muss.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.166, Freitag, den 21. Juli 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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