Der letzte Vorwärts:Zeitungshörbild

Hörprobe

Einen Ausschnitt stellt der Verlag auf Soundcloud zur Verfügung.

Ein aufregendes Experiment: eine Tonfassung der letzten Ausgabe des Vorwärts, der Zeitung der SPD, vom 28. Februar 1933. Danach wird er verboten. Man lauscht gebannt jeder Zeile der Ausgabe, bis hin zu den Lottozahlen.

Von Jens Bisky

Wilde Gerüchte durchschwirren die Stadt. Man sagt, es sei Brandstiftung, an vier oder sechs Stellen des Gebäudes sind Brandstellen. (...) Man sucht die Täter. Wird man sie finden? Wenn die Gerüchte recht haben, wenn es wirklich Brandstiftung ist, so müssen die Täter in Kreisen zu suchen sein, die durch die Tat ihrem Hass gegen das parlamentarische System Ausdruck verleihen wollen."

So stand es Dienstag, den 28. Februar 1933, in der Morgen-Ausgabe des Vorwärts, die für lange Zeit die letzte Ausgabe des ehrwürdigen Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bleiben würde. Am Abend zuvor hatte der Reichstag gebrannt, ein Vorfall, in dem Hermann Göring das Fanal eines angeblich drohenden kommunistischen Aufstandes sehen wollte. Eine neue Welle der Verhaftungen und des Terrors begann, Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt, Rechtsstaatlichkeit abgeschafft. Die damals erlassene Notverordnung "Zum Schutz von Volk und Staat" galt bis zum Ende des Dritten Reichs.

Viele Geschichtsbücher zitieren den einen oder anderen Satz aus dem Bericht des Vorwärts. In welchem Kontext sie standen, lässt sich nun nachhören. Der Hamburger Karmers-Verlag hat den Vorwärts vom 28. Februar 1933 vertont: vom Titelkopf über die Artikel und Inserate und die Lottozahlen und die Parteinachrichten für Groß-Berlin bis hin zum Impressum. Schreibmaschinengeklapper und Telefongeklingel bilden die Redaktionsgeräusche.

Auch wer sich für diesen dramatischen Augenblick interessiert, könnte ungeduldig werden angesichts einer Rubrik "Berlin bleibt rot", einer Aufzählung von Vorträgen und Betriebsversammlungen. Die letzte Woche vor den Reichstagswahlen am 5. März hatte begonnen. Und so waren viele Wahlkampftermine anzukündigen, daher fallen viele Namen heute nicht mehr gekannter Referenten. Beim Lesen der Ausgabe würde man das wohl überblättern. Im Zeitungshörbild aber entfaltet auch diese Rubrik eine eigene Kraft, dank der klaren, an die Dreißiger erinnernden Artikulation des Schauspielers Frank Roder, dessen Stimme sich mit Techno-Rhythmen von Sven Wittekind (Dynamite) zu einem Klangbild vereint.

Einer, der 1933 dabei war, der sozialdemokratische Journalist Victor Schiff, hat nach Kriegsende an die letzte Nummer des Vorwärts erinnert. Um Mitternacht seien die meisten Kollegen nach Hause gegangen, er kümmerte sich noch um den Umbruch, schon hörte man die Rotationsmaschinen laufen - plötzlich rollten Polizeilastwagen in den Hof des Redaktionsgebäudes: "Druck einstellen ... Kein Exemplar darf raus ... Der ,Vorwärts' ist verboten ..."

Es gibt viele Features zu historischen Themen, aber kaum eines, bei dem die Vorteile des Hörbilds so deutlich werden wie bei dieser ehrgeizigen, grandiosen, sorgfältigen Produktion. So klingt ein historischer Moment im Abstand der Jahre.

Und dann beginnt Nadja Eustermann über Goebbels-Gebrüll "Rosen auf den Weg gestreut" zu singen, nicht martialisch, wie es oft getan wurde, sondern zärtlich, sarkastisch, wie es Tucholsky und Eisler geschrieben haben: "Und prügeln sie, so lobt den Herrn. / Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft! / Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!"

Vorwärts. Komplette Vertonung der letzten freien Ausgabe vom 28. Februar 1933. Mit Frank Roder, Frank Arnold, Ulrich Tukur, Angelika Bartsch, Marina Zimmermann u. v. a. Karmers Verlag, Hamburg 2017. 3 CDs, ca. 205 Minuten, 20 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: