Der Dirigent Carlos Kleiber ist tot:Ein Vulkan am Opernpult

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Angeblich betrat er die Bühne nur, wenn daheim die Tiefkühltruhe nachgefüllt werden musste. Der große Dirigent und geniale Nicht-Funktionierer ist im Alter von 74 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben.

JOACHIM KAISER

Schon seit Jahrzehnten hat die Musikwelt Carlos Kleiber, der seit dem Tode von Leonard Bernstein als größter, aufregendster Dirigent der Welt galt, zu vermissen gelernt. Man "riss" sich um ihn, versuchte ihn mit beispiellosen Angeboten, (beliebig viele Proben, beliebig viel Geld) doch zum Musizieren zu bringen. Scheiterte fast immer. Allmählich kam es so weit, dass er nur noch einmal im Jahr zu dirigieren schien. Herbert von Karajan, der ihn für ein Genie hielt, bemerkte einst maliziös, es sei doch bedauerlich, dass diesem Künstler die Musik so wenig Spaß mache.

(Foto: Foto: AP)

Der dirigiere nur, wenn die Tiefkühltruhe nachgefüllt werden müsse. Alles das ist auf den ersten Blick - und leider auch auf den zweiten noch - nahezu unerklärlich. Denn von jenen Qualen,

Kabalen,Zerwürfnissen,Nötigungen und Strittigkeiten, die sich um Carlos Kleibers Karriere teils beklemmend, teils amüsant ranken, war schlechthin nichts zu spüren, wenn dieser wunderbare Musiker dirigierte! Kritiker erfanden dann Neologismen des Lobes, selige Übertreibungen. Als seine Schallplatten-Einspielung von Beethovens "Fünfter" auf den Markt gekommen war, hieß es im amerikanischen Magazin Time, es klinge, wie wenn Homer zurückgekehrt sei, um seine Ilias vorzutragen. Hatte er in München den "Rosenkavalier" oder die "Fledermaus" geleitet, dann fühlten sich die Rezensenten "wie im Paradies". Und eine seither sehr bekannt gewordene Kritikerin befand nach seiner Darbietung der Brahmsschen e-Moll-Symphonie, es sei derart vollendet gewesen, dass ihr nun platterdings alle Worte fehlen...

So vibrierte Carlos Kleibers Kunst von beschwingter Freiheit und unfasslich gesteigerter Passion, was ihn im "Tristan" mehr als einmal nicht nur an den Rand eines physischen Zusammenbruchs führte. Zudem entdeckte er immer wieder, gerade bei großer Klassik, jenen Ausgleich, jene Versöhnung zwischen dem Anspruch des Einzelnen, dem Individuellen, Blühenden, und der riesigen Forderung des Ganzen, des geordneten Organischen - wie wir ihn in der Politik leider nie erleben dürfen. Und in großer Symphonik freilich auch nur dann, wenn Meister wie Carlos Kleiber, Wilhelm Furtwängler oder des Dirigenten Vater, Erich Kleiber, den Taktstock führen.

Was aber war denn nun wohl der Grund für alle die "Schwierigkeiten", mit denen Kleiber seine Umwelt in zunehmendem Maße verwirrte? Der sagte Klavierkonzert-Aufnahmen ab, weil ihm plötzlich des Solisten arrogantes Gesicht nicht mehr gefiel. Der verlangte unmittelbar vor einer weltweit ausgestrahlten, überall erwarteten Premiere eine Verdoppelung seines Honorars. Der scheute vor den Selbstverständlichkeiten des Betriebs zurück. Natürlich begreift man, dass ein Künstler seiner Qualität, seiner Dimension, sich nicht den Markt-Mechanismen unterwerfen und von ihnen korrumpiert werden will. Doch hinter Kleibers Trotz steckte noch etwas ganz anderes. Er konnte nämlich, wenn er nur wollte, ausgesprochen witzig-charmant sein. Er hat sogar einmal eine entzückende, nicht unzutreffende Polemik gegen Celibidache als Brief Toscaninis aus dem Himmel an eben jenen Celibidache verfasst, der allerdings nicht in den Himmel käme, sondern dahin, wo besser gekocht werde...

Als Karajan in Salzburg für seine Ring-Version den "Siegfried" probte, saß Kleiber, längst selber ein berühmter Künstler, 14 Tage dabei, um zu lernen. Dass er selber so enorme Schwierigkeiten hatte, vor ein Orchester zu treten, anzufangen, hing gewiss auf der einen Seite zusammen mit dem Vorbild des allzu strengen Über-Vaters Erich Kleiber, der seinem genialen Sohn wahrlich hätte mehr Mut machen sollen, statt ihn zu verunsichern. Freilich sträubt man sich ein wenig zu glauben, ein genial begabter Mensch käme nie über die vielleicht allzu strengen Attitüden jenes Vaters hinweg, dessen berühmte Repertoire-Stücke, wie der von Erich Kleiber uraufgeführte "Wozzeck", beklemmenderweise auch zu des Sohnes Favoriten gehörten. Wirkte des Vaters Schatten derart verstörend? Oder beseelte den Sohn nicht vielmehr doch, was man salopp "Angst vor der eigenen Courage" nennt. Nämlich: Angst vor dem eigenen Genie. Sawallisch hat berichtet, wie er den angstvoll zögernden Carlos Kleiber geradezu derb auf die Bühne und zum Dirigentenpult stieß. Dann war alles gut.

Carlos Kleiber war am 3. Juli 1930 in Berlin geboren worden und während der 30er Jahre mit seinem Vater nach Argentinien emigriert. Er begann seine Dirigenten-Laufbahn in La Plata. Nach Volontariat und kurzen Kapellmeister-Intermezzi am Münchner Gärtnerplatz-Theater und sodann in Potsdam, war des 36-jährigen Carlos Kleiber erste - und letzte - wirklich wichtige Position die Württembergische Staatsoper in Stuttgart. Dort begann sein Weltruhm.

"Wozzeck", "Elektra", "Rosenkavalier", "Carmen", "Freischütz" und "Otello" bot er in Stuttgart mit jener Inständigkeit, jener Freiheit für's Zarte und instinktiven Kraft für die Großform, die bald niemand mehr künstlerisch zu übertreffen vermochte.

1974 gelang es dann auch den Bayreuther Festspielen, Carlos Kleiber zum ersten und einzigen Mal an sich zu binden. Und zwar gleich für "Tristan und Isolde", mit der überwältigend musikalisch, trotz allen Furors mädchenhaft naiv und gleichwohl niemals neutral zurückhaltend singenden Isolde der Catarina Ligendza. Gewiss galt Kleiber bereits damals, etwa für seinen noblen Freund Claudio Abbado, als erster "Tristan"-Dirigent der Welt. Trotzdem dachten so manche erfahrene Bayreuth-Skeptiker, es würde sich angesichts der heiklen Bayreuther Akustik schon herausstellen, dass auch der hochgelobte Carlos Kleiber nur mit Wasser koche. Aber dann zeigte sich: Er kochte mit Feuer. Dinge, die mittlerweile im gegenwärtigen Opernbetrieb immer mehr vernachlässigt, verschlampt werden, nämlich: die sprechende Artikulation auch vermeintlich nebensächlicher musikalischer Phrasen, die poetische Funktion von Pausen, zudem die rätselhafte Tristan-Mixtur aus fast italienischer Kantilenenhaftigkeit und fast atonaler Chromatik - all dem war der 44-jährige Carlos Kleiber unvergesslich gewachsen.

Wir Münchner hatten mit Carlos Kleiber relatives Glück. Er ließ sich doch immer wieder überreden, den "Rosenkavalier" zu machen, die Johann Straußsche "Fledermaus" zum Schweben zu bringen, Verdis "Otello" zu beseelen und notfalls auch bei einer so heiklen Ensemble-Oper einzuspringen, wie es Puccinis "Bohème" ist. (Übrigens, die von den Snobs belächelten Repertoire-Stücke "Bohème" oder "Fledermaus" sind keineswegs simpel.)

Da Carlos Kleiber mit zwanghafter Besessenheit - wenn überhaupt - fast immer die gleichen Werke dirigierte, fehlt seinem Repertoire leider sehr, sehr viel. Er kannte alle Mahler-Symphonien Ton für Ton - und dirigierte keine. Er war dem Geheimnis von Beethovens symphonischem Ausdruck mehr auf der Spur als alle anderen Sterblichen. Und hat doch nie die "Neunte" oder eine verbindliche Interpretation der "Eroica" geboten. Wer ihn nur ein wenig aus der Nähe kannte, fühlte sehr wohl, wie heftig ihn solche Lücken schmerzten.

Umso begieriger erlebten wir mit, wie in noch nicht weit zurückliegender Zeit Carlos Kleiber in ewige Sicherheit zu bringen schien, was Beethovens "Coriolan"-Ouvertüre und Brahms' vierte Symphonie bedeuten. Diese Werke dirigierte er mehrfach: zunächst in Berlin zum Abschiedskonzert des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Aber auch in Ingolstadt, wo der Vielumworbene mit einem luxuriösen Audi geködert worden war. Und vielleicht am faszinierendsten, als er zu einem runden Geburtstag von Leo Kirch die Gratulanten und den Jubilar mit etwas beschenkte, was allein schon die Existenz des Medien-Großmoguls in versöhnlicherem Licht dastehen ließ: nämlich, vom Bayrischen Staatsorchester gespielt, mit Beethovens "Coriolan"-Ouvertüre und dem düsteren Brahms.

Auch wenn der immer unsteter und seltener dirigierende Carlos Kleiber unserer Welt schon lange abhanden gekommen schien, jetzt, da sein Tod das Ende zur eiserner Gewissheit macht, spürt man erschrocken die bizarre Beziehung, wie sie zwischen dämonischer Begabung und dämonischem Nichtfunktionieren-Wollen zu bestehen scheint. Ob Benedetti Michelangeli, Glenn Gould, Friedrich Gulda, oder eben Carlos Kleiber: Sie alle konnten und wollten nicht, sie vermochten nicht "mitzumachen". Provozierten nolens-volens Skandale, Enttäuschungen, wunderliches Archiv-Material. Scheußliche Vorstellung, dass auch alle diese Dinge gespeichert wurden und werden. Umso inständiger und leidenschaftlicher sollten darum diejenigen, die das Glück hatten, von der Kunst derart genialer Nicht-Funktionierer berührt zu werden, bezeugen, wie hilfreich, tröstlich und maßstabsetzend Carlos Kleibers Lebensleistung war. Wir sind Zeugen seines Ruhms gewesen, seiner beängstigenden Besonderheit, vor allem aber seiner lodernden Kunst. Seit dem vergangenen Samstag liegt Carlos Kleiber in der ost-slowenischen Kleinstadt Konjsica begraben. Sein Andenken sei gesegnet.

© Quelle: SZ v. 20.07.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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