Der Countdown (XVIII):Und ab jetzt heimatlos?

Für Menschen aus der Europäischen Union stellt sich die Frage, ob sie in Zukunft auf dieser Insel der Engstirnigen bleiben können - und wollen.

Von Alexander Menden, London

Die Klasse unseres jüngsten Sohnes hat einen Ausflug zum Welsh Harp Reservoir gemacht. Das ist ein Stausee unweit des Wembley-Stadions, der im 19. Jahrhundert die Transport-Kanalsysteme von London mit Wasser versorgte. In den Zwanzigerjahren zogen seine Ufer auch FKK-Freunde an, bis entrüstete (und zweifellos sexuell frustrierte) Anwohner die Nacktbader im Juni 1930 in eine Schlägerei verwickelten. Das Ganze ging als "Sun-Bathing Riot" in die Lokalgeschichte ein. Heute lernen Stadtkinder an diesem Gewässer, was ein Ökosystem ist. Im Stau auf der Edgware Road vertrieb sich eine der begleitenden Lehrassistentinnen die Zeit damit, die Sechs- und Siebenjährigen im Bus zu fragen, wo sie denn herstammten. Die meisten, obwohl in London geboren, erwiderten pflichtschuldigst "Polen", "Frankreich" oder "Portugal". Unser Sohn sagte: "I am a British citizen."

Fast alle Mädchen und Jungen bei dem Schulausflug wären zu dieser Antwort berechtigt gewesen. Kinder haben einen Anspruch auf britische Staatsbürgerschaft, wenn zumindest ein Elternteil vor ihrer Geburt länger als fünf Jahre hier gelebt hat. Was bedeutet für diese Kinder der EU-Austritt, den Premierministerin Theresa May an diesem Mittwoch offiziell in Gang setzt? Ihre Identität ist zusammengesetzt aus der Nationalität ihrer Eltern und ihrer britischen Lebenswirklichkeit. Bisher war es für die jungen EU-Ausländer unnötig, sich zu entscheiden, wohin sie gehörten, ins Heimatland der Familie - das manche noch nie besucht haben - oder ins Geburtsland. Alle waren Europäer, alle waren Londoner, das reichte. Doch die drei Millionen EU-Ausländer, die den anstehenden Verhandlungen nun zwischen Hoffnung und Resignation schwankend entgegensehen, werden in den kommenden zwei Jahren mit einer Entscheidung ringen, vor der The Clash schon 1982 standen: Soll ich bleiben oder soll ich gehen?

Manche sagen, dass sie sich für ihren britischen Pass schämen.

Für viele hängt davon nicht weniger als ihr Lebensunterhalt ab. Wenn man, wie die polnischen Handwerker, mit der ganzen Familie samt Großeltern nach England gezogen ist, wenn man als italienische Kellnerin oder rumänische Putzfrau ein mageres, aber vergleichsweise solides Auskommen hat, könnte eine Rückkehr ins Heimatland den Verlust der materiellen Existenz bedeuten. Das kümmert die Brexit-Cheerleader ebenso wenig wie der Umstand, dass durch einen solchen Exodus die britische Infrastruktur bedroht wäre.

Genügend Briten, die meisten von ihnen Remainers, bedauern die Zwangslage ihrer Mitbürger aus der EU zutiefst. Manche sagen, dass sie sich für ihren britischen Pass schämen. Aber selbst die Gutwilligsten verstehen oft nicht, warum sich EU-Ausländer, die hier ein Auskommen haben und als integriert durchgehen, ernsthaft über einen Rückzug Gedanken machen. Eine Variante der Sätze "Leute wie ihr wart doch nicht gemeint" oder "Ihr seid doch sicher" ist die Standardreaktion. Für die Vorstellung, dass es dabei nicht um den Einzelfall, sondern ums Prinzip gehen könnte, sind die meisten Briten einfach zu pragmatisch.

Ein interessanter Fall sind Ausländer - und das gilt in besonderem Maße für zahlreiche Deutsche -, die glaubten, mit dem Umzug nach Großbritannien eine unkompliziertere Ersatznationalität angenommen zu haben. Sie sind Mitglieder von Denkmalschutzvereinen und Wanderklubs, haben sich eifrig für die Erhaltung der Gemeindebibliothek engagiert und geholfen, die Straßenfeste anlässlich des Diamantjubiläums der Queen zu organisieren. Sie sagten Sachen wie "Bei uns in England. . ." und hatten sich innerlich von ihrem Herkunftsland verabschiedet. Faszinierenderweise deckt sich das einfältige Englandbild solcher Anglophiler bis ins Detail mit dem der Brexiteers.

Sehnsucht nach dem "reinen" England, das nie existierte

Beide Gruppen verbindet Verblendung, beide haben eine im Kern touristische Version dieses Landes verinnerlicht. Seine Symbole sind milchiger Tee und gepflegte Rasenflächen, "Blitz Spirit" und unerschütterlicher Humor, Cricket und Rugby, Pferderennen und Bulldoggen, Beatrix Potter und Harry Potter, Spotted Dick und Kidney Pie, viktorianische Dampfmaschinen und grüne Felder, Poppies und Fairness, exzentrische Adlige und winkende Royals, Scones und Orangenmarmelade.

Man kann die Sehnsucht nach diesem "reinen" England, das nie existierte, Romantisierung nennen oder Kleinkariertheit. In jedem Fall wurzelt es in Nostalgie, dem Nährboden jeder reaktionären Weltsicht. Die Kehrseite ist die Wahrnehmung Englands als kranke Nation, verraten von liberalen Eliten, überrannt von Fremden, zu denen natürlich auch Menschen wie der Westminster-Amokläufer gezählt werden, der aus der Grafschaft Kent stammt. Einwanderer, die dachten, sie könnten sich einfach so ins rosarote Klischeebild einfügen, müssen deshalb schmerzlich feststellen, dass sie darin nie vorgesehen waren. Sie fühlen sich verstoßen, gekränkt in einer Zuneigung zur Wahlheimat, die weit weniger auf Gegenseitigkeit beruhte, als sie dachten.

Niemand weiß, wie die Gespräche zwischen London und Brüssel in den kommenden zwei Jahren verlaufen werden. Aber wenn man die chaotische Vorbereitung der Briten auf den Scheidungsprozess verfolgt hat, wenn man sieht, wie sie es jetzt schon darauf anlegen, den Verhandlungstisch ohne Ergebnis zu verlassen, dann gehört wenig Mut zu der Prognose, dass am Ende nicht das globale, souveräne Britannien stehen wird, das die Europaskeptiker herbeireden. Nein, der Brexit wird eine engstirnigere, nach innen gewandte und mehr denn je in ihrer idealisierten Vergangenheit gefangene Insel gebären. Wohl dem, der dann neben der britischen noch auf eine andere Identität zurückgreifen kann.

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