Demokraten und Diktatoren:Machttypen

Demokraten und Diktatoren: Archie Brown: Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Propyläen Berlin 2018. 480 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.

Archie Brown: Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Propyläen Berlin 2018. 480 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.

Archie Brown hat eine Kulturgeschichte der politischen Führung im 20. und 21. Jahrhundert geschrieben - kenntnisreich und unterhaltsam. Dabei geht es nicht nur um "starke Männer". Seiner Typologie muss man aber nicht immer folgen.

Von Isabell Trommer

Wer zu viele Autobiografien von Politikerinnen und Politikern liest oder Wahlkampfbücher Romanen vorzieht, bekommt leicht den Eindruck, am Ende komme es immer auf eine starke Führungsfigur an - höchstens noch auf ein paar Berater. Dieser Tage aber genügt es vermutlich, sich einfach in der Welt umzuschauen: Die Sehnsucht nach mächtigen Anführern ist weit verbreitet, und in vielen Ländern sind stark anmutende Politiker an der Macht. Der britische Politologe und Historiker Archie Brown, der lange in Oxford lehrte, will mit seinem 2014 erschienenen Buch, das nun um ein Vorwort ergänzt auf Deutsch vorliegt, den Mythos des starken politischen Führers erschüttern.

Er stellt die Idee der politischen Führung zwar nicht an sich infrage, aber hält die "Stark-schwach-Dichotomie" für problematisch, ja sogar gefährlich. Dominantes Verhalten solle nicht das entscheidende Kriterium sein, wenn es darum geht, eine Regierungszeit zu bewerten. "Stärke ist bewundernswert, Schwäche weckt Bedauern." Diese banale Formel sei hier wenig sinnvoll. Überhaupt werde in demokratischen Staaten, wenn sich alle über die Wahlergebnisse beugten, oft das Gewicht der Spitzenkandidaten überschätzt. Viel besser laufe es, wenn ein Politiker seine Regierung als kollektive Führung denke, wenn delegiert und kooperiert werde.

Neben einem allgemeinen Teil, in dem es Archie Brown um die Herausbildung und Entwicklung der demokratischen Führung geht, bildet eine Typologie den eigentlichen Kern des Buches. Brown nimmt sich ein paar ausgewählte Formen der Machtausübungen genauer vor: neudefinierende, transformative, revolutionäre, autoritäre und totalitäre Führung.

Als Beispiele für neudefinierende Führung, die die Grenzen des politisch Möglichen verschiebe, führt er etwa Franklin D. Roosevelt mit seinem New Deal, Lyndon B. Johnson, der den Civil Rights Act unterzeichnete, und Margaret Thatcher ins Feld, weil sie die politischen Spielregeln in Großbritannien neu bestimmt habe. Die transformative Führung hingegen verändere das politische und ökonomische System eines Landes fundamental. Charles de Gaulle, Adolfo Suárez, der erste spanische Ministerpräsident nach Franco, Michail Gorbatschow, Deng Xiaoping oder Nelson Mandela fallen in diese Kategorie, Politiker also, die an der Schwelle zu einer neuen Ordnung regierten. Von der chinesischen über die russischen Revolutionen gelangt Brown, der lange zur Geschichte des Kommunismus geforscht hat, schließlich zum Arabischen Frühling, er schildert Umwälzungen, die mit oder ohne Führung abliefen. Zuletzt kommen Stalin, Mao Zedong, Mussolini und Hitler an die Reihe, also autoritäre oder totalitäre Führer.

Der Politiker, der Browns Vorstellung von einer guten - in diesem Fall einer neudefinierenden - Regierung am nächsten kommt, ist Clement Attlee, was in Wahrheit natürlich bedeutet: dessen Regierung war Brown die liebste. Attlee amtierte von Juli 1945 bis 1951 als Premierminister, nachdem Labour bei den Unterhauswahlen überraschend die absolute Mehrheit errungen hatte. Vor ihm und nach ihm führte Churchill die Regierung. Attlee sei nicht nur bescheiden und loyal gewesen, sondern habe die Gruppe zusammengehalten und jeden seiner Minister in die Lage versetzt, seine Aufgaben zu erfüllen. In dieser Zeit verstaatlichte die Labour-Regierung die Bank of England, die Eisenbahnen, die Strom- und Gasversorgung, die zivile Luftfahrt, die Kohlegruben und die Stahlindustrie. Die Unterstützung für Kranke und Arbeitslose wurde ausgebaut und eine egalitäre Umverteilungspolitik betrieben. An den Marktradikalimus von Thatcher, die später innerhalb eines Jahrzehnts zwei Drittel des britischen Staatseigentums wieder verkaufen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken.

Noch schlechter als Thatcher, die wohl am liebsten ganz auf ihre Minister verzichtet hätte, kommen Neville Chamberlain und Tony Blair weg. Insbesondere außenpolitisch haben beide, laut Brown, eine desaströse Bilanz vorzuweisen. Es geht um Chamberlains Appeasement-Politik, die Hitler und das nationalsozialistische Deutschland zu lange gewähren ließ. Und um Blairs unbändigen Willen, Großbritannien 2003 an der Seite der Vereinigten Staaten in den Irakkrieg zu führen. Er stellte sich gegenüber Meinungen anderer Politiker, Experten und Diplomaten taub. Brown sieht hier vor allem Selbsttäuschung am Werk.

Die Analyse mag oft grob sein, doch sie ist geistreich und überdies unterhaltsam

Im Grunde durchleuchtet Archie Brown unterschiedliche Arten, die politische Bühne zu betreten, sie zu bespielen und wieder zu verlassen. Interessant sind dabei Karrieren wie die von Deng Xiaoping, der unter Mao aufstieg, zweimal verbannt wurde und immer wieder zurückkehrte. Nach Maos Tod trieb er die wirtschaftliche Modernisierung Chinas voran, ohne eine Führungsposition innezuhaben. Der politische Abgang erfolgt dann entweder freiwillig, unfreiwillig oder scheinbar freiwillig. Manchmal kann er zäh sein. Man verliert eine Wahl, darf nicht mehr antreten, produziert einen Skandal oder die Partei stürzt einen.

Browns Kategorien überzeugen nicht bis ins Letzte, denn so eindeutig lässt sich eine politische Führung oft nicht zuordnen und irgendetwas hat ja fast jede Regierung neu definiert. Insofern leuchtet die weit gefasste Kategorie der neudefinierenden Führung nicht ein. Zudem spielt es für Brown oft kaum eine Rolle, in welche Richtung die politische Reise dann ging. So erstrahlt die Amtszeit Adenauers bei Brown nur im hellsten Licht. Überhaupt lesen sich die Kanzlerschaften Adenauers, Brandts und Kohls, als habe ein Erfolg den nächsten gejagt. Man wüsste eben gern, wie Brown das Verhältnis von Führung und politischen Inhalten denkt.

Manches an diesem Buch mag grob, einfach, antiquiert und allemal konventionell sein, aber es ist ein großes Vergnügen, es zu lesen. Archie Brown zeigt kompakt und einnehmend die Unterschiede zwischen Regierungsstilen und die entscheidenden politischen Momente des 20. und der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts auf. Er erzählt eine mitreißende, globale politische Kulturgeschichte, kenntnis- und geistreich und unterhaltsam. Für jede Regierungszeit hat er eine gute Geschichte parat. Das Überraschende und Schöne ist, dass es in diesem Buch letztlich gar nicht so sehr um die "großen Männer" geht, sondern um Entscheidungsfindung, Gelingen und Scheitern in der Politik.

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