Debüt:Kroatien und die Mörderzunge

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Anna Baars Coming-of-Age-Roman "Die Farbe des Granatapfels" erzählt von einer Jugend zwischen zwei Kulturen.

Von Ulrich Rüdenauer

Zwischen Muttersprache und Vaterland zieht sich ein schier unüberwindlicher Graben. Um von der einen auf die andere Seite zu gelangen, muss ein scharf bewachtes Zwischenreich überwunden werden: die Grenze zwischen Österreich und Jugoslawien. Jeden Sommer überschreitet die Erzählerin, Tochter eines Österreichers und einer Kroatin, in Anna Baars Debütroman "Die Farbe des Granatapfels" diese auch im Kopf gezogene Linie. Bei der dalmatinischen Großmutter Nada verbringt sie ihre Ferien. Für ein paar Wochen lässt sie "Esterraich", das Land der "Ibermenschen", wie die Großmutter die Heimat der Enkelin verächtlich nennt, hinter sich.

Es ist nicht nur eine Grenzlinie zwischen zwei Staaten, sondern auch ein tiefer Spalt, den die Geschichte aufgerissen hat: Nada stand während des Zweiten Weltkriegs auf Seiten der Partisanen, und die erlittenen Gräuel haben sie hart und ängstlich, eigensinnig und neurotisch gemacht. Dem Kind gefällt die Wucht und Zwiespältigkeit der kettenrauchenden Großmutter ebenso sehr, wie es sich vor ihr und ihren Marotten fürchtet. Die Beziehung nennt die Zurückblickende ein "Trauerspiel", an dem sie sich seit eh und je "schadenklug" und "kleinlaut" entlangtastet. Die "Angstsaat" der Großmutter geht in ihr auf. Es herrscht ein uneingestandener Kampf zwischen den beiden. Zugleich schmeichelt ihr die Liebe von Nada, die etwas Maßloses hat und von Eifersucht durchdrungen ist.

"Im Schreiben konnte man die Vatersprache gebrauchen, die leibliche Sprache."

Baars jugendliche Heldin muss die Gegensätze zwischen dem Leben in der österreichischen Alltagsnormalität, das fast ganz im Dunkeln bleibt, und der Kargheit in Kroatien in sich ausbalancieren; sie entwickelt, durchaus leidend unter dem Hin und Her, eine Sensibilität für die Zwischentöne und die Details der anderen Landschaft und Mentalität. Das Kind wird älter, und die Pubertät erfährt es noch ein wenig verstörender durch die ambivalenten Welten und Geschichten, in denen es zu Hause ist. Das Dazwischenstehen ist das eigentliche Thema dieses Coming-of-Age-Romans, der von Sprachlosigkeit und Sprachermächtigung erzählt.

Wenn das Mädchen bei der Großmutter wohnt, ist das Deutsche nämlich verpönt; es gibt für die Jugendliche keine Selbstverständlichkeit des Sprechens. Heimlich macht sie sich abends bei Kerzenlicht Notizen. "Im Schreiben konnte man die Vatersprache gebrauchen, die leibliche Sprache, in der man für Wochen schwieg und doch fortwährend dachte, träumte und empfand. Und zweifellos war es klüger, das Hingeschriebene vor Nada geheim zu halten, sonst wieder ihre hochgezogene Braue, ihr schräger Blick: Mörderzunge." Mit dieser "Mörderzunge" spürt sie den Dingen und dem Wesen der Großmutter nach; erst im Schreiben entsteht die Erinnerung. So wird man zur Autorin.

Anna Baar, 1973 in Zagreb geboren und in Klagenfurt lebend, findet für dieses zur Welt kommen durch die Sprache einen lyrischen, sinnlichen Ton, der zuweilen etwas zur Schnörkelhaftigkeit neigt: Erinnerungsblüten, die üppig sprießen und wuchern, sich fast zu dekorativ um die Gegenstände ranken. Manchmal greift Baar auf einen Bildfundus zurück, der leicht angestaubt wirkt: Das noch flatternde Huhn mit abgehacktem Kopf als Symbol einer archaischen Welt darf ebenso wenig fehlen wie die unvermeidliche Mahnung der Großmutter, reine Unterwäsche zu tragen - immer droht ja ein Unglück, das einen ins Krankenhaus bringen könnte.

Und doch geht von Baars Vergegenwärtigungsbuch über weite Strecken ein Sog aus, weil es, zwischen zwei Sprachen pendelnd, in immer wieder neuen Anläufen nach eigenen Worten sucht, die das Prägende wiedergeben könnten: die Schönheit und Grausamkeit des Erwachsenwerdens; die verworrene Herkunft, die vergiftet scheint; die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, dessen Echo noch in den Nachgeborenen hallt und im Jugoslawienkrieg eine brutale Aktualisierung erfuhr. Und weil Baar und ihre Erzählerin wissen, dass "Wahrheit eine Erfindung" ist, verharrt dieser Roman nicht in einer naiven Kinderperspektive - schleifenartig nähert er sich zur Gegenwart hin einer immer illusionsloseren, zweifelnden Vergangenheitssicht, die Traurigkeit ebenso umfasst wie behutsames Verständnis.

Anna Baar: Die Farbe des Granatapfels. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 320 Seiten. 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.

© SZ vom 11.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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