Debatte zur Mittelschicht:Aus der Mitte entspringt Verdruss

Es muss ziemlich lange her sein, dass es der Mittelschicht das letzte Mal richtig gut ging. Heute quälen sie Zukunftssorgen, Abstiegsängste und Statuspanik.

Jens Bisky

Wann eigentlich ging es der Mittelschicht zum letzten Mal richtig gut? Es muss ziemlich lange her sein, Mitte der achtziger Jahre, sagt die Statistik. Heute ist es anders. Wie zum EU-Gesundheitsminister die Zigarette und zur Arbeitsethik die Protestanten gehören zur Mittelschicht inzwischen Zukunftssorgen, Abstiegsängste, Statuspanik. Es ist eine Gewohnheit, die man nicht unbedingt liebgewinnen muss, dass im Drei-Monats-Rhythmus eine Studie erscheint, die von der Schwäche und dem Schwinden der Mittelschicht in einer Welt wachsender Polarisierung kündet, dass bald darauf eine andere Studie behauptet, die Mittelschicht in Deutschland sei - genau besehen - noch immer ganz proper und profitiere am meisten vom staatlichen Handeln, Angst aber habe sie dennoch.

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Die Mittelschicht hat ständig Angst - kulturell herausgefordert wird sie dagegen kaum: Wenn die Unterschicht zu Wort kommen, dann als Objekt pädagogischer Bemühungen der Mittelschicht. Vor den Kameras von RTL.

(Foto: dpa)

Jede dieser Studien bietet Anlass für ausgiebige Kommentare. Unsicher geworden, fragt sich der aufgeklärte Zeitgenosse, wie es denn nun bestellt ist um die Verunsicherung der Mittelschicht. Hat nicht Hans-Ulrich Wehler vor kurzem im abschließenden Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" dargelegt, dass es mit der Angleichung der Lebensverhältnisse selbst in den goldenen Nachkriegsjahren des alten Westens nicht recht vorangegangen ist?

Zwar haben, so Wehler, sich in der westdeutschen Marktgesellschaft "die mittleren Lagen der Bevölkerung am meisten vermehrt", andererseits aber "vergrößerte sich, dem Trend seit den 1890er Jahren entsprechend, der Abstand nicht nur zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommensklassen, sondern auch zwischen den höchsten und den mittleren Klassen". Müsste also die Mittelschicht den Stress nicht längst gewohnt sein, in einer Welt wachsender Ungleichheit und zunehmender Polarisierung zu leben? Vielleicht gehört zur Mittellage eine gewisse Verunsicherung - man ist noch nicht dauerhaft ins Elend gebannt, ist noch kein Ausgeschlossener, aber auch noch nicht in die Sorglosigkeit des Vermögenden entronnen.

Soziologische Studien helfen selten weiter: Da werden geringfügige Veränderungen dramatisiert; dass an 100 Euro mehr oder weniger im Monat die Schichtenzugehörigkeit, die Position in der Gesellschaft, hängen soll, bleibt unglaubhaft. Die Frage, wie zunehmende Ungleichheit und soziale Mobilität zusammenhängen, wird nicht oft gestellt. Als Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren von der Tendenz zur "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" sprach, verstand er darunter nicht ein starres, sondern ein beispiellos dynamisches Sozialsystem.

Tausendfache Aufstiegs- und Abstiegsszenarien

Die Mitte war ihm der Ort, an dem tausendfache Aufstiegs- und Abstiegsszenarien begannen und endeten. Ob an der oberen und unteren Grenze der Mitte heute besonders viel Bewegung und Kampf herrschen, würde man zu gern wissen. Meist wird man aber mit der wohlfeilen Floskel vom "Abgleiten in die Armut" abgespeist. Anspruchsvolleren Studien, die mit dem Sozioökonomischen Panel, dem Gini-Koeffizienten, der Ungleichheit messen, und methodischen Raffinessen arbeiten, fehlt dagegen meist die Verbindung zur sozialen Realität.

Das Schicksal der Mittelschicht kann wahrscheinlich mit Einkommensstatistik und Einstellungsumfragen kaum angemessen verstanden werden, zumal die "Mitte" überdeterminiert ist, als Durchschnitt, Normalität und ideale Norm. In Deutschland gesellen sich das Versprechen, Extreme zu vermeiden, und das umfassender Integration hinzu. Wer von der Mittelschicht spricht, redet immer auch von der richtigen, von der gewünschten politischen Ordnung. Einen Teil ihrer Kraft bezog die altbundesrepublikanische Mittelstandsgesellschaft aus dem Glauben der Mehrheit, im eigenen Leben auch das politische Ideal symbolisch zu verkörpern.

Das Gift der Alltagskämpfe

Wie es sich damit im Detail verhält, demonstriert Hans Pleschinskis wunderbarer Mittelschichtsroman "Leichtes Licht", eines der heitersten und scharfsichtigsten Bücher zur Gegenwart, erstmals erschienen im Jahr 2005. Erzählt wird die Geschichte der Sozialarbeiterin Christine Perlacher, die zum Urlaub nach Teneriffa aufbricht. Die Frau von Anfang vierzig, die Empfänger von Sozialleistungen kontrolliert, bedarf der Erholung, um das Gift, das die Alltagskämpfe hinterlassen, loszuwerden, wieder Frieden mit ihrer Umgebung zu schließen und das Bewusstsein der eigenen Vortrefflichkeit zurückzugewinnen. All das gelingt auch auf seltsam undramatische Weise. Nach gutem Schlaf "empfand sich Christine Perlacher jetzt als der erfreuliche Mensch schlechthin: dankbar, offen, gerecht - und freundlich". Offen, gerecht und freundlich wünscht sie auch die Welt. "Und eine faire Republik würde sie gegen deren Feinde" verteidigen. "Die einen Menschen gehörten geschützt. Die rohen gebändigt. Viel mehr war nicht vonnöten. Basta. Mit aller Kraft. Fürs Gute."

Netzwerke sind wichtiger als Fähigkeiten

Kulturell herausgefordert wird die Mittelschicht in Deutschland kaum. Die da oben waren, wie der jüngst verstorbene Theo Albrecht, Fleisch von ihrem Fleisch oder werden, wenn sie Helden des Casino-Kapitalismus sind, als Luftikusse und Spekulanten allgemein verurteilt, gern auch verachtet. Die da unten schweigen eindringlich. Wenn sie ins Bild und zu Wort kommen, dann meist als Objekt pädagogischer Bemühungen der Mittelschicht. Das Kindermädchen, der Schuldnerberater, der Arbeitsvermittler - sie alle versuchen vor RTL-Kameras, die Ausgeschlossenen und Beladenen durch Erziehung zu Mittelschichtstugenden in die Gesellschaft zurückzuholen. Da ist viel Selbstgerechtigkeit dabei, aber es ist billig, sich über diese Sendungen zu empören: Hier werden Prekariat und Unterschicht wenigstens noch gezeigt.

Zur Verunsicherung, die sich bisher vor allem als privater Unmut äußert, tragen weniger reale ökonomische Bedrohungen bei als politische, institutionelle und kulturelle Verschiebungen. Drei Beispiele: Die Verunsicherung ist politisch gewollt, wurde unter dem Stichwort "Aktivierung" auch herbeigeführt. In der Rentenversicherung ist nicht mehr der ruhige Lebensabend wichtig, sondern die "Deckungslücke". Die Krankenversicherung wird nicht mehr vom solidarischen Gedanken beflügelt, vielmehr soll man jährlich Angebote und Sonderbeiträge vergleichen und dann wechseln - wie beim Fitnessstudio. Eine große private Versicherung hat die Lage verstanden und wirbt nun geschickt damit, wirklich versichern zu wollen. Die sozialen Sicherungssysteme wirken zur Zeit vor allem verunsichernd, und das, obwohl noch nie so viel Geld zur Absicherung aufgebracht wurde. Ein Paradox.

Zweitens fehlt dem Integrationsversprechen der deutschen Mittelschicht ein Ort. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Milieus und Medien, das Ende der Großorganisationen, die Auswanderung aus dem allgemeinen Bildungssystem und das faktische Ende des gemeinsamen Wehrdienstes haben dazu geführt, dass es kaum noch einen Ort gibt, an dem "Gesellschaft" erscheint - Public Viewing beginnt, wenn nicht alle Zeichen täuschen, den Mangel zu kompensieren. Drittens ist der langfristig angelegte Übergang von der Leistungs- zur Erfolgskultur inzwischen wohl vollzogen. Netzwerke sind wichtiger als Fähigkeiten.

Keine dieser Entwicklungen hat ausschließlich negative Seiten. Aber einem Christine-Perlacher-Gemüt kann auch keine ganz behagen. Es ist der sympathische Zug der deutschen Mittelschicht, den Anspruch auf Fairness und Integration und ein Mindestmaß an Gerechtigkeit nicht aufgegeben zu haben. Solange dies bleibt, und dies wird hoffentlich lang sein, wird die Statuspanik wohl nicht mehr weichen.

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