Debatte um Radio-Quote:Musik nach Schema F

"Jingle Bells" wird an Weihnachten in den deutschen Radios viel öfter gespielt als "O Tannenbaum". Ein Grund dafür: Immer mehr Programme kommen aus dem Computer. Die Erfolgsformel lautet: "Viele Hits und niemals zwei deutsche Lieder hintereinander!"

Von Dirk Peitz

Es gibt zwei untrügliche Zeichen, dass es weihnachtet in Deutschland. Erstens füllen die Supermärkte ihre Regale mit saisonalen Süßigkeiten. Zweitens läuft im Radio wieder "Last Christmas" von der Gruppe Wham - morgens, mittags und abends. George Michael, einst Sänger von Wham, schrieb diese Moritat von der enttäuschten Vorjahresliebe; nun feiert sie in diesem Advent ihre zwanzigste Wiederauferstehung.

Die wiederveröffentlichte Single ist mal wieder in den Charts platziert - und zurück in den Rotationen der Radiosender, bis in den Rundfunkanstalten auch akustisch die Christbäume wieder abgeschmückt werden. Mehr als 300 Programme gibt es in Deutschland, 240 davon sind so groß, dass ihre Reichweiten erfasst werden - und von diesen Sendern sind wiederum zwei Drittel privat. Doch unabhängig davon, ob sie öffentlich-rechtlich oder privat geführt sind, funktionieren heute die meisten Programme nach jener Logik, die dem deutschen Radio den unschönen Beinamen "Dudelfunk" eingebrockt hat: Sie sind Formatradios.

Klar definierte Zielgruppe

Dieses seit Mitte der achtziger Jahre zunächst von den damals neuen deutschen Privatstationen aus den USA importierte Sendemodell definiert sich so: Radio hat zunächst einmal ein Unterhaltungsmedium zu sein, das sich an die für die Werbung relevante Zielgruppe zwischen 14 und 49 Jahren wendet, dieselbe also, die auch vom Fernsehen umgarnt wird.

Die Konsequenz für Radioprogramme lautet: wenige, kurze, möglichst flockige Wortbeiträge, denn zu viel Gerede provoziert zum Wegschalten - und ganz viel Musik. Am besten werden Titel gespielt, welche die Zielgruppe bereits kennt und mag, und deren Akzeptanz wöchentlich mittels telefonischer Publikumsbefragungen getestet wird. Daher die ewiggleichen Slogans der Sender, sie spielten "die Hits der 70er, 80er, 90er und das Beste von heute".

Ein Reservoir von 180 bis 600 Songs

Das Song-Reservoir, aus dem sich Privatstationen dabei bedienen, beträgt in der Regel zwischen 180 und höchstens 600 Stücken. Rein rechnerisch bedeutet das, dass bei durchschnittlich 14 Titeln pro Stunde im Extremfall nach etwas mehr als einem halben Tag das komplette Musikprogramm durchgespielt ist.

Zusammengestellt wird die Musikmischung von Computern - allerdings erst, nachdem ihm die Kriterien für seine Auswahl von Musikredakteuren eingefüttert wurden. Die wenigen in den Funkhäusern Verbliebenen wühlen sich nicht mehr durch Berge zugeschickter Schallplatten und legen auf, was ihnen gerade so gefällt, sondern müssen heute von Plattenfirmen eingesandte digitale Dateien von Songs etwa nach "Härtegrad" und Sprache katalogisieren.

Die musikalischen Grundregeln des Formatradios heißen: Niemals zwei deutschsprachige Titel hintereinander, wenn sie denn überhaupt gespielt werden. Die meisten deutschen Lieder fallen bei Hörertests ohnehin durch. Und niemals zwei Balladen hintereinander, denn auf die richtige Mischung von Tempo und Klangfarbe kommt es beim Formatradio an, um bei den Hörern so genannte "Abschaltfestigkeit" zu erreichen.

Wobei sich, auch das ein Ergebnis der Formatradiotests, Balladen und qualitativ hoch eingeschätzte Stücke in der Akzeptanz besser halten als schnelle Dance-Stücke.

Im Zweifel die sichere Nummer

Die öffentlich-rechtlichen Mainstream-Wellen sind spätestens in den neunziger Jahren der Formatradio-Logik gefolgt; gewaltige Quoteneinbrüche gegenüber den Privaten sorgten dafür. Heute unterscheiden sich etwa Bayern 3, SWR 3 und NDR 2 mindestens in ihrer Musikauswahl nicht mehr von kommerziellen Anbietern.

Allerdings gibt es einige öffentlich-rechtliche Sender für jüngeres Publikum, darunter die Berliner Programme Radio Eins und Radio Fritz sowie die WDR-Jugendwelle Eins Live, die faktisch auch mit den Methoden des Formatradios arbeiten, aber eine wesentlich neuere und experimentellere Musikauswahl bieten.

Bei Eins Live, so Wellenchef Jochen Rausch, werden die Sendungen zwar auch mit dem Computer gefahren, und wöchentlich werden Publikumstests gemacht. Dafür bedient sich der Sender andererseits aus einem "deutlich vierstelligen" Titelreservoir. Meistens gilt aber auch bei Eins Live: Im Zweifel siegt die sichere Formatradionummer. Sarah Connor zum Beispiel. Mit der neuen Ballade. Auf Englisch.

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