Debatte um Grass-Gedicht:Auf Kosten des Verstandes

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Es wird kommentiert, als wäre Günter Grass' Werk "Was gesagt werden muss" ein großes politisches, wenn nicht sogar militärisches Ereignis. Es ist es aber nicht. Die Diskussion über das Gedicht des Literaturnobelpreisträgers erhellt den Zustand der politischen Debatte. Es ist, als könne man gar nicht mehr reden über die Gründe der Feindschaft zwischen Israel und Iran.

Thomas Steinfeld

Gibt es ein Gedicht, das sich in seiner Wirkung, in deren Schnelligkeit und Heftigkeit, mit diesen Zeilen vergleichen ließe? Wie war es, als Heinrich Heine sein "Wintermärchen", als Paul Celan seine "Todesfuge" veröffentlichte, wie war es, als Alfred Andersch mit "empört euch der himmel ist blau" gegen den Radikalenerlass loszog? Standen die Medien damals auch kopf, beherrschte ein kleines lyrisches Werk die Nachrichten auf allen Kanälen?

Über Günter Grass' "Was gesagt werden muss" wird kommentiert und geurteilt, als wäre dieses Gedicht ein großes politisches, wenn nicht sogar militärisches Ereignis. (Foto: dapd)

Drei Tage ist nun Günter Grass' "Was gesagt werden muss" in der Welt, und es wird kommentiert und darüber geurteilt, als wäre dieses Gedicht ein großes politisches, wenn nicht sogar militärisches Ereignis. Es ist es aber nicht. Es ist immer noch ein Gedicht, der in holpernde Verse und willkürlich gesetzte Strophen gekleidete Aufschrei einer zumindest scheinbar gequälten Seele, die Gehör und Anerkennung einfordert.

Benjamin Netanjahu, der Ministerpräsident Israels, replizierte auf dieses Gedicht, indem er seinerseits die Schuldfrage stellte und sofort beantwortete: Nicht Israel, sondern der Iran bedrohe den Weltfrieden, drohe anderen Staaten, sie auszulöschen, unterstütze den Terror, steinige Frauen und henke Homosexuelle.

Einmal abgesehen davon, dass der Weltfrieden grundsätzlich nur im Ringen um den Weltfrieden, also in Gestalt von Kriegen und Kriegsdrohungen, stattfindet: Benjamin Netanjahu gab eine Antwort, die Günter Grass in seinem als Gedicht verkleideten Pamphlet provoziert hatte: "Nicht wir sind es, sondern die anderen." Wobei es, und das sollte man auch sagen, etwas Infames hat, wenn Benjamin Netanjahu am Ende Günter Grass' spätes Bekenntnis, er sei Mitglied der Waffen-SS gewesen, so verdreht, als wäre der Dichter immer noch in deren Auftrag unterwegs.

Schuldzuweisungen, die sich im Kreis drehen

So gesehen, stellt allein schon der Umstand, dass dieses Gedicht in der Öffentlichkeit - nicht nur Deutschlands - eine solche Bedeutung angenommen hat, eine Auskunft über den Zustand der politischen Debatte dar: Es ist, als könne man gar nicht mehr reden über die Gründe der Feindschaft, die zwischen Israel und Iran herrscht. Es ist, als lägen die strategischen Ziele, die von den beiden potentiellen Kriegsparteien verfolgt werden, außerhalb aller Begrifflichkeit.

Stattdessen hagelt es Schuldzuweisungen. Wie immer drehen sie sich im Kreis, schreiten voran nach dem moralischen Prinzip des "er hat aber angefangen" - bis sie beim Recht auf Selbstverteidigung und in einer Forderung nach grundsätzlicher Parteilichkeit enden. Das politisch Zwiespältige des Gedichts von Günter Grass besteht darin, dass er ähnlich vorgeht.

Wenn er, von der islamischen Republik Iran und deren Interesse an einem Krieg absehend, "jenes andere Land beim Namen" nennen will, das da über ein "wachsend nukleares Potential" verfügt, ohne dass es deswegen einer internationalen Kontrolle unterliegt, wenn er also meint, ein politischer Konflikt lasse sich dadurch klären, dass man der Öffentlichkeit einen (weiteren) Schuldigen präsentiert, dann möchte er Richter sein und die (schon eingetretenen und noch zu erwartenden) Verbrechen gegeneinander abwägen. Und wenn er den ganzen Konflikt am Ende einer "internationalen Instanz" übergeben will, so tritt er vorläufig selber als deren Repräsentant auf.

Der Preis für die Suche nach dem Schuldigen ist hoch. Kein Wort fällt, weder im Gedicht noch in der nun folgenden Debatte, über die auch internationale Rolle, die Israel als herrschende Militärmacht im Nahen Osten innehat, und kein Wort darüber, was es heißt, wenn der Iran dieser Macht eine Konkurrenz zu eröffnen trachtet. Und dieser Widerspruch soll aufgehoben sein, wenn ein Dichter zum "Verzicht auf Gewalt" auffordert und eine internationale Aufsicht eingerichtet sehen möchte?

Das Genre des "Ich kann nicht anders"

Benjamin Netanjahu weiß offenbar, was er tut, wenn er Günter Grass in seiner Stellungnahme seinerseits mit lyrischen Wendungen gegenübertritt, die im Gestus der Betroffenheit auftreten. Von der fünfmaligen Wiederholung des Satzmusters "der Iran, nicht Israel" bis hin zur Polarität zwischen "nicht mehr schweigenden" (Grass) und "anständigen" (Netanjahu) Leuten antwortet der israelische Ministerpräsident im Genre des "Ich kann nicht anders".

Und man muss hinzufügen: Grass tat ihm einen Gefallen, als er, mit einem gewaltigen Überschuss an deutscher Phantasie, alle drohenden Szenarien übertrieb und Israel unterstellte, das "iranische Volk auslöschen" zu wollen - ganz so, als ginge es um einen neuen Holocaust, der nun aber von Israel ausgehe. Wer sich so mit Übertreibungen auf politisches Terrain begibt, darf sich nicht wundern, wenn er seinerseits nicht nur auf ein Übermaß an Phantasie trifft, sondern auch auf den Wunsch, dem Dichter das Wort zu entziehen: Einen "Anschlag auf Israels Existenz" nannte der Publizist Ralph Giordano das Gedicht, "von einem aggressiven Pamphlet der Agitation" sprach der Zentralrat der Juden in Deutschland.

Um wie viel leichter wird es nun sein, einem Vorbehalt gegen Israels Politik seinen Nachbarländern gegenüber mit dem Hinweis, man habe ja bei Grass wieder einmal gesehen, was von solcher Kritik zu halten sei, den Grund zu bestreiten. Dass Grass Fürsprecher findet wie den Kritiker Dennis Scheck, der den Dichter für den "Minenspürhund der deutschen Literatur" hält, wird weder dem Literaten noch der Literatur nützen - dass es der Dichtung nur gut tun kann, wenn sie Explosionen auslöst, ist ein Standpunkt für Knallköpfe.

Es gäbe vieles, über das öffentlich geredet werden müsste

Dabei gäbe es vieles, über das öffentlich geredet werden müsste. Denn auch wenn Günter Grass die Atombombe im Iran auch nur "vermutet": Das Land strebt nach dem mächtigsten Mittel der Bedrohung, und verfügte es darüber, müsste die Welt anders mit ihm umgehen. Zu reden wäre auch über den Anspruch Israels, die entscheidende Kriegsmacht im Nahen Osten zu bleiben - und Günter Grass hatte ja recht, als er von einem "Erstschlag" sprach: Ein Präventivschlag war Israel jedenfalls bislang nichts Fremdes.

So vertrackt ist die Lage, dass sie ein paar kalte, klare Gedanken wert wäre, ein paar Gedanken, die nicht auf das Ermitteln von Schuldigen aus sind, sondern auf die Gründe dieses Konfliktes zielen - und sich damit aus dessen nunmehr offenbar totalen Bannkreis entfernen.

Günter Grass verwies in allen Interviews nach der Veröffentlichung darauf, er habe in den Medien nur Tadel, in privaten Mails aber sehr viel Zustimmung erhalten: Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln - und auch nicht daran, dass im Nahen Osten der nächste Krieg droht und dass sehr viele Menschen diese Bedrohung als eine persönliche wahrnehmen.

Vielleicht glaubt Günter Grass, über persönliche Eitelkeiten hinaus, an den Zauber der Poesie. Vielleicht meint er tatsächlich, in den Versen eines Gedichtes liege ein Gegenzauber, mit dem man eine als bedrohlich empfundene Realität bekämpfen könne. Vermutlich gelingt es ihm, mit diesem Glauben eine Anhängerschaft hinter sich zu versammeln. Das kann alles sein. Vernünftiger aber wird die Welt durch solche Gedichte kaum - im Gegenteil: Auch in diesem Fall geht das Moralisieren auf Kosten des Verstands.

© SZ vom 07.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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