Debatte:Störungsanfällig

Der Liberalismus sieht sich derzeit von Marktradikalen und Autokraten umzingelt. In der Debatte darüber steht die politische Theorie stark unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen. Liberal - was meint das heute? Wie sieht gehaltvoller Liberalismus aus?

Von Johan Schloemann

Nein, einen wunderbaren Klang hat "Liberalismus" heute nicht. Das Wort hört sich ein bisschen nach privater Krankenversicherung an, ein bisschen nach Leuten, die sich von den Bismarcks dieser Welt über den Tisch ziehen lassen.

Man könnte auch sagen: Der Liberalismus ist umzingelt. Auf der einen Seite steht die Gefahr, mit dem jüngeren Neoliberalismus identifiziert zu werden. Also mit jener gnadenlosen Deregulierung in der Folge der Wirtschaftsdenker Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, der, so geht die Kunde, das Gemeinwohl ziemlich schnuppe sein soll. (Ja, ja, liebe Wettbewerbsfreunde und Arbeitgeberverbandsökonomen, ganz ruhig, wir wissen schon, dass dieser Neoliberalismus wiederum nicht umstandslos mit dem älteren Neoliberalismus der Freiburger Schule gleichgesetzt werden sollte.) Ganz in der Nähe steht dann noch die Sorge, mit Parteien wie der FDP verwechselt zu werden.

Auf der anderen Seite aber drohen die autokratischen Tendenzen der Gegenwart: Schein- oder Teildemokratien, die eine nationalpatriotische Alleinherrschaft auf Zeit mit Fassaden liberaler Verfassungen versehen; oder diese sogar offen angreifen, wie etwa in Polen, Ungarn, Indien, Russland und der Türkei. Also die Kerle, mit denen gerade wieder allerlei realpolitische Deals gemacht werden. Außerdem erodiert der Liberalismus auch noch innerhalb der stabileren demokratischen Länder. So manches heute greift die Grundlagen der politischen Freiheit an, die doch entgegen der Chimäre vom Nachtwächterstaat eine starke, vitale Ordnung braucht.

Zu den Angreifern gehören etwa: die Privatisierung öffentlicher Räume, die Atomisierung von Interessen, die schwierige Konstruktion der Europäischen Union, die digitale Entgrenzung, der religiöse Fundamentalismus und Terrorismus sowie der Populismus, welcher gegen das Prinzip der Repräsentation einen starren Gegensatz von Volk und Eliten behauptet. Nicht, dass darum schon überall die Verfassungsordnung wanken würde; "jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht", sagte mal Friedrich Naumann, der große Sozialliberale des Kaiserreichs. Dennoch: Während Bürgerrechte und Freiheiten hier und da gesellschaftspolitisch noch ausgeweitet werden, scheint zugleich das Vertrauen in die Gestaltung politischer Freiheit zu schwinden. Und es wäre sicher viel zu einfach, dies allein dem "Turbo"-Kapitalismus oder dem Neoliberalismus anzulasten.

Die politische Theorie, die eigentlich ein wenig distanzierter auf die ältere bis jüngste Ideengeschichte blicken kann, steht schon ziemlich stark unter dem Eindruck all dieser aktuellen Entwicklungen. Thesenbildung, Interpretation und Krisendiagnose lassen sich gerade sehr schwer in getrennte Abteilungen sortieren. Das war zu merken, als sich dieser Tage namhafte Vertreter der Disziplin zu einer Konferenz in München trafen. Hans Vorländer zum Beispiel, Autor von vielen anerkannten Studien und Einführungen über Verfassung und Demokratie, schloss sich dort der Analyse des Freiburger Historikers Jörn Leonhard an: Vom westlichen Liberalismus seit der Aufklärungszeit solle man, trotz seiner riesigen Errungenschaften, lieber keine lineare Erfolgsgeschichte erzählen, dies wäre "eine zu schöne Autosuggestion". Die liberale Ordnung sei vielmehr immer wieder "labil und störungsanfällig".

Es gibt eine starke Spannung zwischen Verfassung und Demokratie

Vorländer lehrt an der Technischen Universität in Dresden. Und er war derart irritiert von der neuen nationalistischen Demonstrationswelle dort, dass er schon im vergangenen Herbst zusammen mit zwei Kollegen eine erste politikwissenschaftliche Studie dazu vorgelegt hat: "Pegida - Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung".

Im äußerlich eher unerschütterten München nun zählte Hans Vorländer eine Reihe von "Paradoxa" der liberalen Verfassung auf, die er auch "Sollbruchstellen" nannte - darunter eben auch das notorische Problem der Volkssouveränität: Es gibt eine starke Spannung zwischen Verfassung und Demokratie, zwischen liberalen Rechten und Kollektivinteressen. Die Verfassung ist nach den gängigen Gründungsmythen demokratischer Staaten so etwas wie eine "Selbstzähmung" des Souveräns. Das heißt: Rechtsstaat und Demokratie sind keineswegs dasselbe, sollten aber auch nicht mehr ohneeinander zu haben sein.

Diese Spannung aushaltbar zu machen, braucht Übung. Und Vertrauen in Institutionen: Nur weil der Konflikt zeitweise nicht offen ausbricht, darf man nicht vergessen, dass es ihn die ganze Zeit gibt. Anschaulicher als erwünscht zeigt das jetzt nicht nur der Rechtspopulismus, sondern auch der Konflikt um die Entmachtung des Verfassungsgerichts in Polen - die mit dem Volkswillen begründet wird. In Deutschland hingegen haben wir, folgt man der Zuspitzung von Hans Vorländer, fast das umgekehrte Problem: eine zu große Macht des Bundesverfassungsgerichts, das der eigentliche "Souveränitätsgewinner" geworden sei.

Wenn also die Verfassung den beweglichen bis wackeligen Rahmen für die Freiheit der Bürger setzt, so findet man innerhalb dessen diverse benachbarte Kampfplätze, die auf der Münchner Liberalismus-Tagung einzeln begangen wurden. Einer der bekanntesten ist der Gegensatz von Markt und Staat. Spätestens seit den Debatten nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise sollte allerdings klar sein, dass beide viel enger zusammenhängen, als es die Schlagwörter wollen. Kein Sozialstaat ohne Geschäfte mit den bösen Banken.

Der Leipziger Philosoph Martin Saar brachte das Problem der Diskussion seit Adam Smith und Karl Marx in einer Nebenbemerkung auf den Punkt: Fast alle seien sich heute einig darüber, dass die Eingriffe des Staates in die Wirtschaft Grenzen haben müssen - aber nicht darüber, wie diese Grenzen genau festgelegt und begründet werden sollen. Lisa Herzog (Frankfurt) zeigte noch einmal sehr präzise, inwiefern "effiziente" Märkte, denen die Politik angeblich nur ideale Bedingungen schaffen muss, oft gar nicht so marktwirtschaftlich funktionieren wie behauptet. Und Matthias Hansl, Doktorand in München, führte in einem sehr erfrischenden Vortrag vor, wie sich in Sachen Kapitalismus auch Antipoden im Laufe ihres Lebens annähern können - in diesem Fall der Philosoph Jürgen Habermas und der 2009 gestorbene liberale Denker Ralf Dahrendorf: Beide sind am Ende aus sehr unterschiedlichen Richtungen bei etwas gelandet, was man "gehaltvollen Liberalismus" nennen könnte.

In der folgenden Diskussion über den nächsten Kampfplatz saß dann passenderweise ebender Jürgen Habermas in der ersten Reihe: Es ging um die Religion. Habermas hatte die letzten Jahre vorgeschlagen, die liberale säkulare Gesellschaft müsse religiöse Akteure in irgendeiner Weise "Sinnressourcen" beitragen lassen. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf verglich diese Ideen implizit mit der Vorstellung von Hegel, die Bürger müssten einer Religion angehören, damit die allgemeine Sittlichkeit gewährleistet werde. Natürlich wurde auch über den schwierigsten Testfall geredet: was denn die Forderung nach einem "liberalen" Islam eigentlich bedeutet. Ist es liberal, nur einer bestimmten, eben "liberalen" Ausformung von Religion die liberale Religionsfreiheit zu gewähren?

Und nicht zuletzt betrifft die Liberalismus-Debatte den Feminismus. Zu der These, das er neuerdings mit dem Neoliberalismus zusammenhänge, sagt die Tübinger Philosophin Cornelia Klinger ganz kühl und trocken: Nun, Feminismus und Neoliberalismus hätten eben einen gemeinsamen Gegner - die bürgerliche Geschlechterordnung und damit die in der Moderne etablierte Trennung von Arbeit und Privatleben. Was jetzt geschehe, sei aber leider ein "Top-down-Feminismus" zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Liberalismus, das legte diese jüngste Bestandsaufnahme mehr als einmal nahe, kann offenbar immer wieder zum Opfer seiner selbst werden.

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