Documenta 2017:Ein Angriff auf die Freiheit der Kunst

Documenta 2017: Das "Parthenon of Books" der argentinischen Künstlerin Marta Minujin bei der Documenta in Kassel.

Das "Parthenon of Books" der argentinischen Künstlerin Marta Minujin bei der Documenta in Kassel.

(Foto: AFP)

Die Documenta in Kassel hat die Performance "Auschwitz on the Beach" abgesagt, die auf die Zustände in den Flüchtlingslagern von Libyen aufmerksam machen sollte. Das ist ein Fehler.

Gastbeitrag von Philipp Ruch

In der vergangenen Woche ist die Performance "Auschwitz on the Beach" von der Documenta in Kassel nach heftigen Protesten abgesagt worden. Stattdessen fand eine Gesprächsveranstaltung statt, in der der italienische Philosoph und Aktivist Franco "Bifo" Berardi seinen Vergleich der europäischen Migrationspolitik mit dem Holocaust einerseits bedauert, andererseits erläutert hat. Hier erklärt nun Philipp Ruch, der Kopf der Gruppe "Zentrum für Politische Schönheit" - deren plakative Aktionen oft ähnlich umstritten sind -, warum er die Absage in Kassel für falsch hält.

Am Ende wollte sogar der Bürgermeister von Kassel die Performance abbrechen. Historiker und Publizisten setzten sich dafür ein, die Freiheit der Kunst zu sabotieren und ein Kunstwerk, das sie nie gesehen hatten, zu beseitigen oder zu verhindern. Gewohnt ist man, dass ein Happening wenigstens stattfindet oder ein Bild zumindest hängt, bevor sich alle darüber aufregen. Unnötig inzwischen.

Die Documenta wolle der "Trauer keinen Schmerz" hinzufügen, hatte sie erklärt. Wer oder was der Trauer um Auschwitz Schmerzen bereitet, bedarf aber einer Betrachtung. Denn die Performance von Franco "Bifo" Berardi und Sim Sampaio wollte auf die Lager am Strand von Libyen aufmerksam machen. Wer aber das Werk schon wegen seines Titels verdammt, bringt sich um die Einsicht in das Wesen und die Natur dieser Lager.

Es handelt sich nicht um "Flüchtlingslager", wie es oft heißt, nicht einmal um offizielle Gefängnisse. Die Lager werden privat betrieben, die Insassen erinnern an die Geiseln einer tödlichen Falle. Frauen werden vergewaltigt. Augenzeugen sprechen von Erschießungen, um neuen Häftlingen Platz zu machen. Die deutsche Botschaft in Niger warnt vor "allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen". Gewaltkommunikativ sind die Lager eine Botschaft an die Heimat der Flüchtlinge: "Kommt nicht hierher." Libyen bringen diese Gewaltbotschaften nichts, Europa jede Menge.

Wie billig die Provokation der beiden Italiener war, wie falsch der Vergleich mit Auschwitz ist, darin sind sich alle einig. Aber was folgt daraus? Wie viele andere übte sich auch der Historiker Micha Brumlik in Wortklauberei: An der libyschen Küste stünden keine Verbrennungsöfen. Wäre "Dachau on the Beach" genehmer gewesen? Die Sophisterei, die über Tage mit einem Ankündigungstext getrieben wurde, ist atemberaubend.

Der Künstler darf drastisch werden - die Zustände in Libyen sind es auch

Dabei hatte selbst das Auswärtige Amt die Zustände in den Lagern vor nicht einmal sieben Monaten als "KZ-ähnliche Verhältnisse" bezeichnet. Warum blieb im Januar der Sturm der Entrüstung aus? Die Wahrheit dürfte unangenehm sein: Wir leben im Zeitalter eines neuen Ressentiments gegen die Kunst. Heute wird ein Kunstwerk gar nicht mehr betrachtet, eine Performance gar nicht erst abgewartet, bevor man darüber urteilt.

Der Künstler hat die Freiheit, einen drastischen Vergleich zu wählen. Wenn eine Gesellschaft ihn nicht erträgt, kann das der Kunst egal sein. Auch die Documenta hat nur einen einzigen Auftrag: Heimat, Zufluchtsstätte und Schutzraum der Künste zu sein. Wenn sie aus falsch verstandener politischer Korrektheit ein Werk verhindert, bricht sie mit der Freiheit der Kunst. Politische Kunst ist nicht politisch korrekt. Sie ist ein sokratisches Projekt. Sie will die Gesellschaft durch Stechen aufwecken.

"Nie wieder Auschwitz" - das Versprechen der BRD

Auschwitz steht nicht nur für ein Vernichtungslager. Auschwitz war bis in die Siebzigerjahre der Begriff für den Holocaust. Auschwitz steht für das größte zivilisatorische Verbrechen, das vorstellbar ist. Die erste Forderung aus der deutschen Geschichte, das Versprechen der Bundesrepublik lautet: "Nie wieder Auschwitz". Aber was ist damit eigentlich gemeint? Henryk M. Broder hat einmal in einem wenig beachteten Aufsatz festgehalten, dass die Deutschen das wörtlich genommen haben: Auschwitz soll nie wieder in Betrieb gehen: "Mit der gleichen Logik könnte man auch sagen: 'Die Titanic darf nicht noch einmal untergehen.' Derweil rund um Lampedusa jedes Jahr Tausende von Menschen ertrinken."

Jenes Versprechen umfasst, alle Formen systematischer Gewalt unter allen Umständen und jederzeit zu verhindern. Die Konturen des Holocaust im Keim zu ersticken, das war der Auftrag. Im Sinne dieser Metapher hat das Übel in Libyen längst Wurzeln geschlagen.

Den Kritikern aller Holocaust-Vergleiche geht es darum, Auschwitz als singuläres Phänomen zu verteidigen. In ihrem Eifer haben sie dem Schwur allerdings ein Wort hinzugefügt: "Nie wieder Auschwitz-Vergleiche!"

Aber die Formel "Nie wieder Auschwitz" braucht den Vergleich. Sie braucht ihn schon, um eine starre, schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Vieles von dem, was in Libyen geschieht - von der systematischen Abriegelung des Mittelmeeres bis zur Finanzierung, Bewaffnung und Ausbildung der dubiosen "Küstenwache" -, wurde im Bundesinnenministerium und im Kanzleramt ersonnen und beschlossen. Auschwitz: Das war und ist auch die Geschichte der alliierten Flüchtlingsabwehr, der Einführung des Visumzwangs für Reichsdeutsche im Mai 1938, das Abweisen der St. Louis, des Passagierschiffs mit jüdischen Flüchtlingen.

Haben wir denn vergessen, was das Versprechen "Nie wieder Auschwitz" eigentlich bedeutet?

Es ist wichtig, die Einzigartigkeit von Auschwitz zu verteidigen. Und gerade deshalb: Jeder Massenmord, den wir zulassen oder - wie im Falle Libyens - mitorganisieren, ist Verrat an den Ermordeten in Auschwitz. Wie brennend das Verlangen war, mit Auschwitz die Verbrechen der Zukunft zu verhindern, lässt sich an dem österreichischen Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebenden Hermann Langbein lernen. Ihm verdankt die Welt den Satz "Nie wieder Auschwitz". Im Originaltext der Resolution des Internationalen Auschwitz-Komitees heißt es: "Handeln wir, ehe es zu spät ist, um die Menschheit zu retten." Der Satz, druckgelegt im Jahre 1954, der weltberühmten Schwurformel vorangestellt, dürfte Ignoranz gegenüber der libyschen Lagerwelt kaum legitimieren.

Auschwitz steht für ein Versprechen, das sich die Menschheit gegeben hat. Dieses Versprechen wird nicht erst verletzt, wenn Verbrennungsöfen gebaut werden. Es wird schon verletzt, wenn paramilitärische Verbände im Mittelmeer deutsche Seenotretter angreifen und die Bundesregierung nicht einschreitet. Der Debattenfundamentalismus und die Intoleranz gegenüber einer politischen Kunst, die an diesen Zynismus erinnert, sind erschreckend.

Was genau soll der Missgriff von "Auschwitz on the Beach" sein? Warum durfte die Performance unter keinen Umständen stattfinden? Vielleicht hätte sie unsere Politik thematisiert, die diese Lager möglich macht. Vielleicht hätte sie unser Geld thematisiert, mit dem das System finanziert wird. Mit Sicherheit wäre uns eine Fundamentalkritik entgegengeschrien worden, die unser Selbstverständnis als Deutsche und Europäer berührt.

Denn wir sind keine Humanisten. Unsere Politik verrät den Geist der Aufklärung. Wir verraten gleich mehrere zentrale Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, allen voran die Genfer Flüchtlingskonvention und Langbeins "Nie wieder Auschwitz". Aber das wollen wir nicht wahrhaben. Und der Kurator der Documenta 14 hat mit seiner Absage die deutsche Gesellschaft vor diesen Einsichten verschont.

Was sind die Konsequenzen eines Diskurses, dem es neuerdings gelingt, Werken den Weg in die Wirklichkeit zu versperren? Sollen die Historiker einst auf unsere Zeit blicken und eine Renaissance und eine Generation unpolitischer Künstler verkünden?

Wie gut oder schlecht die Performance in Kassel für das öffentliche Bewusstsein gewesen wäre, wir werden es nie erfahren. Wir müssen das Schweigen trotzdem brechen. Und die Kunst sollte nicht hinhören auf das, was die Empörten von ihr wollen oder nicht.

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