Debatte:Die schmutzige Seite des Patriotismus

Wer ist ein Verfassungsfeind? Juristisch ist der Begriff sehr eng gefasst, politisch aber weit und unscharf. Es ist nicht gut für den demokratischen Streit, überall und ständig die Verfassung bedroht zu sehen.

Von Florian Meinel

Ist die AfD verfassungsfeindlich, weil sie die Glaubensfreiheit der Muslime infrage stellt? Jene Partei behauptet dasselbe über den Islam, weil er die Gleichberechtigung, den Schulfrieden und den Rechtsstaat überhaupt gefährde. In den zirkulären Debatten um Religions- und Meinungsfreiheit, um Demokratie und Populismus ist der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit allgegenwärtig. Seine Bedeutsamkeit ist damit offenkundig. Sehr im Gegensatz zu seiner Bedeutung.

Die Vokabel gehört seit der Ära Adenauer zur politischen Sprache der Bundesrepublik, vollends, seit der Radikalenerlass des Jahres 1972 sogenannten Verfassungsfeinden den Zugang zum öffentlichen Dienst verwehrte. Seit der Neuen Ostpolitik hatte das Land erklärtermaßen keine Feinde mehr, sondern nur noch Verfassungsfeinde. Die aber gab es auch in gefestigten Zeiten: Ihre Freiheit ist nicht unsere Freiheit! Ihre Republik ist nicht unsere! Und seit Thilo Sarrazin die paradoxe Strategie andauernder Rede über vermeintlich Totgeschwiegenes marktfähig gemacht hat, raunen selbst führende Intellektuelle in groß aufgemachten Beiträgen über angeblich regierungsamtliche Sprech- und Denkverbote und kokettieren so mit der Pose des avantgardistischen Verfassungsfeinds. Dabei gerät fast aus dem Blick, dass die Länder vor dem Bundesverfassungsgericht noch immer um das Verbot der einzigen seit Jahrzehnten eindeutig und offen verfassungsfeindlichen Partei ringen.

Mit dem Kampfbegriff des Verfassungsfeinds, den keine andere Sprache kennt, muss es also eine besondere Bewandtnis haben. Es gibt innere und äußere Feinde, Staatsfeinde und Feinde des Fortschritts - aber Verfassungsfeinde?

Das Wort hat seine heutige Bedeutung erst Mitte des 20. Jahrhunderts erlangt. Verfassungsfeinde hießen in den 1860er- Jahren noch jene, die gegen die Reichseinigung und Bismarcks Verfassungspläne waren, während der Reichskanzler seine innenpolitischen Feinde als "vaterlandslose Gesellen" bekämpfte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg waren Verfassungsfeinde jene Gruppen, die das Weimarer Verfassungswerk - aus welchen Gründen auch immer - ablehnten. Erst Carl Schmitt gab dem Begriff in der Endphase der Weimarer Republik seine heutige Bedeutung: Jede Verfassung hat demnach grundlegende Prinzipien, einen werthaften normativen Verfassungskern, der nicht zur Disposition demokratischer Politik steht und deswegen nicht verhandelbar ist. Wer diesen inhaltlich bestimmten Verfassungskern gesinnungsmäßig ablehnt oder politisch bekämpft, wird zum Verfassungsfeind, auch wenn er sich formal legaler Mittel bedient.

Wer aber kann befugt sein, über Verfassungsfeind und Verfassungsfreund zu entscheiden? Carl Schmitt hoffte 1932 auf Hindenburg und eine Präsidialdiktatur im Verbund mit der Beamtenschaft. Doch als er sah, dass der Reichspräsident mit den Verfassungsfeinden gemeinsame Sache machte, wechselte er die Seiten und fand im nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetz einen neuen Verfassungskern.

Das Grundgesetz rechnete von Anfang an mit Verfassungsfeinden, kennt aber den Begriff nicht und hat die rechtlichen Instrumente des Kampfes gegen Feinde der Verfassung überhaupt strikt formalisiert: Nach dem Grundgesetz sind Parteien nur dann verfassungswidrig, wenn sie sich gegen den Kern dessen richten, was die Verfassung selbst in Artikel 79 für unabänderlich erklärt, nämlich gegen elementare Standards der Menschenwürde und der demokratischen Gleichheit. Vor allem aber kann nur das Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit treffen, und auch dies nur in einem besonders anspruchsvollen Verfahren mit einem engen Kreis von obersten Verfassungsorganen, die einen solchen Antrag stellen dürfen. Das gilt auch für das zweite Instrument, das das Grundgesetz kennt: Wer politische Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, dem können sie förmlich aberkannt werden. Das Verfahren ist nie praktiziert worden. Für jeden waschechten Verfassungsfeind wäre die Grundrechtsverwirkung ein allzu hohes Rangabzeichen. Politische Klugheit gebietet hier Zurückhaltung.

Dann endet der normale politische Meinungskampf; es geht allein um das große Dafür und Dagegen

So eng der verfassungsrechtliche Begriff des Verfassungsfeindes, so weit und unscharf ist der politische. Er unterscheidet sich von der bloßen Gegnerschaft durch unbestimmte Gesinnungskriterien und signalisiert auf eine inzwischen schon recht alltägliche Weise das Ende des normalen politischen Meinungskampfs und den Beginn einer argumentativen Zone, in der es scheinbar allein um das große Dafür und Dagegen geht. Bis zur Unkenntlichkeit verwischen dann in der politischen Sprache die Unterscheidungen von Verfassungswidrigkeit und Verfassungsfeindschaft, von Unvereinbarkeit mit der Verfassung und Angriffen auf ihre Substanz. Und zwar mit Erfolg, wie man sieht: Die Politik der Verfassungsfeindschaft gehört zum diskursiven Arsenal der deutschen Öffentlichkeit, der es bisher gelungen ist, die überall erstarkenden Rechtsparteien vergleichsweise klein zu halten.

Doch wenn nicht alles täuscht, verliert der politische Kampfbegriff des Verfassungsfeinds zusehends seine Überzeugungskraft. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die neuen Verfassungsfeinde sich oft als geradezu aufreizend verfassungstreu inszenieren. Marine Le Pen versteht sich als wahre Hüterin der gaullistischen Verfassung, und die AfD beruft sich in ihrer Programmatik ostentativ auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratie, auf Grundrechte und die "Werte des Grundgesetzes", unter denen sich natürlich alles Mögliche verstehen lässt, bis hin zu Grenzschließungen. Und selbst die krudeste Verfassungsauslegung verweist auf ein ernsthaftes Problem: Müsste man von Verfassungsfeinden nicht verlangen, dass sie erklärtermaßen gegen die Verfassung sind? Freilich haben Fidesz und Pis die Zerrüttung der Verfassungsinstitutionen in Ungarn und Polen auch erst im Besitz der Regierungsgewalt in Angriff genommen.

Das wirkliche Problem einer Politik, die schnell Verfassungsfeinde wittert, ist der träge Unwillen, die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern selbstbewusst und offen zu führen. Demokratische Politik hat in Rechnung zu stellen, dass auch die Opposition gegen die wohlbegründete herrschende Meinung zunächst einmal nur eine andere Meinung ist. Die Kennzeichnung als Verfassungsfeind dagegen bewirkt eine asymmetrische Personalisierung der politischen Auseinandersetzung: Man hofft, dass sich, je nach Adressat und Lage, Justiz, Verfassungsschutz, Bundeszentrale für politische Bildung oder Bundesverfassungsgericht bereit finden werden, das Nötige zu unternehmen, geht aber selbst nicht das geringste Risiko ein. Noch nicht einmal das einer moderierten Diskussion im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Die Lust des Spießbürgers, bewaffnet mit dem Recht auf seiner Seite den staatlichen Zwangsapparat marschieren zu lassen, ist oft karikiert worden. Auch die Politik der Verfassungsfeindschaft kann in diesem Sinne unpolitisch werden. Die an sich befriedende Vorstellung von einem mit vielerlei materiellen Gehalten aufgeladenen, normativ fixierten Verfassungsidentitätskern mit Durchsetzungsanspruch kann zum Verfassungsbegriff einer politisch passiven Gesellschaft verkommen, wenn sie zum Schutz der Mehrheitsmoral instrumentalisiert wird. Man sollte diesen Umgang mit der Verfassung getrost jenen überlassen, die als Ministerpräsidenten Verfassungsklagen gegen die Bundesregierung wegen der Flüchtlinge und als Bundestagsabgeordnete wegen der Euro-Rettung für gute Ideen halten.

Wer überall die Verfassung bedroht sieht, betreibt am Ende diffuse Identitätspolitik

So ist die Politik der Verfassungsfeindschaft die schmutzige Seite des bundesrepublikanischen Verfassungspatriotismus. Sie transportiert die Unsicherheiten der heterogener werdenden sogenannten Mehrheitsgesellschaft mit ihrer "Verfassungsidentität" tendenziell neurotisch nach außen. Während in der schnellen Abfolge politischer Krisen eine sicher geglaubte politische Gewissheit nach der anderen ins Wanken gerät, wird der angeblich nicht verhandelbare Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung rhetorisch immer weiter ausgedehnt, bis schon der Mangel an loyaler Gesinnung gegenüber der schlichten und stets reversiblen Legalität verdächtig ist. Das schwächt nicht nur die spezifisch verfassungsrechtlichen Instrumente der wehrhaften Demokratie. Es zeugt auch von geringem Vertrauen in die politischen Institutionen, wenn kontroverse Entscheidungen sofort zur Verfassungsidentität gerechnet und so mit einer Hülle der Superlegalität eingekleidet werden.

Wer überall die Verfassung bedroht sieht, betreibt am Ende unweigerlich jene diffuse Identitätspolitik, die er den anderen vorhält. So aber wird dem neuen Primitivismus der Volksdemokraten ganz sicher nicht beizukommen sein. Auch die Verfassungsfeinde sind eben am Ende die eigenen Fragen als Gestalten.

Florian Meinel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität. 2011 publizierte er die viel beachtete Studie "Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit".

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