Debatte:Die Phantome Europas

Ein niederländischer Journalist, ein britischer Historiker und ein ukrainischer Schriftsteller zeigen, wie sich auf klug unterhaltende Weise über unseren Kontinent erzählen lässt - jenseits von Identitätskrampf und Wertehysterie.

Von Jens Bisky

Wenn ein Freund spöttisch fragte, was denn nun typisch sei für dieses Europa, käme man in Verlegenheit. Mit den Allgemeinplätzen, der Vielfalt, dem Lernen aus der Geschichte, dem Frieden, will man nicht aufwarten. Der Anblick des Kontinents wie der EU verbietet gegenwärtig jede Selbstfeier. Nach welchen Normen man zusammen und also Europäer ist, wird derzeit neu ausgehandelt - laut, unduldsam, oft grob. Keiner weiß, wie die Neuvermessung des Kontinents ausgehen wird.

Am besten also wäre es, Geschichten zu erzählen. Man könnte mit dem Freund beispielsweise zu Madame Tussauds in Berlin gehen. Da stehen derzeit sechs gut gekleidete Herrenfiguren herum: der Schotte Sean Connery, die Engländer Roger Moore und Daniel Craig, der Waliser Timothy Dalton, der Ire Pierce Brosnan und George Lazenby, der seit seinem 24. Lebensjahr in London wohnt. Alle sechs waren sie James Bond, ein typischer europäischer Held schon deshalb, weil er die Schurken gern an exotischen Schauplätzen erledigt, eine deutsche Pistole benutzt, von einem britischen Schriftsteller erfunden wurde und sich auf einer Insel am Rande Europas zuhause fühlt. Europäer wohl auch in seiner Mischung aus Prinzipientreue (geschüttelt, nicht gerührt), Einfallsreichtum und Stilempfinden. Bond ist, wenn man so will, ein Urenkel des Odysseus unter den Bedingungen des zerfallenen Empires.

Im 19. Jahrhundert wollte man den "Schwindelgeist" der Freiheit unter Kontrolle bringen

Und er hat in den letzten Filmen eine für Europa nicht untypische Entwicklung durchlaufen. Die Verhaltenssicherheit aus den Zeiten des Kalten Krieges ist dahin, die Melancholie größer, die eigenen Leute bereiten ebenso viele Schwierigkeiten wie die Schurken. Bonds Welt ist britischer geworden und der Dienst zu einer Art Ersatzfamilie mit "M" an der Spitze.

Man könnte auf der Suche nach dem typisch Europäischen auch erzählen, dass in der Ukraine über Rumänien gern schlecht geredet wird. Wobei jeder annimmt, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Das dürfte an der erheblichen Ähnlichkeit liegen, an der hier wie da anzutreffenden Mischung aus Armut, Korruption und wildem Nationalstolz. Es ist das Gemeinsame, das trennt und einen Narzissmus der kleinsten Differenz befördert.

Wahrscheinlich gehört auch die Übertreibung von Bagatellen aus Diensteifer zu Europa. In Paris, so wird berichtet, forderten nach Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo zwei wachsame Polizeiagenten einen Soldaten, der einst in der Grande Armeé gedient hatte, zum Trinken auf. Der Wein schmeckte, sie schwärmten von früher und unterschrieben einen Eid, füreinander und die wahre Freiheit zu sterben. Der arme Ex-Soldat wurde festgenommen und wegen Umsturzplänen zu langer Haft verurteilt. Die Szene könnte aus einem Roman von Dumas oder Balzac stammen, hat sich aber tatsächlich ereignet. Politik mit Fiktionen zu machen, den Fakten notfalls nachzuhelfen, scheint auch eine europäische Tradition.

Über den bezaubernden Helden James Bond informiert der Kulturführer "Typisch Europa" des niederländischen Journalisten Pieter Steinz. Der leidenschaftliche Kritiker starb im August dieses Jahres an den Folgen von ALS. Sein Buch, in den Niederlanden ein großer Erfolg, stellt in 100 Stationen europäische Kunstwerke und Kulturprodukte vor, die in ganz Europa bekannt sind. Das reicht von Homer bis zum Minirock, von Shakespeare bis zum Zauberwürfel. Steinz verfährt dabei rein affirmativ, und doch gelingt ein lebendiges Panorama der europäischen Kultur, riecht es nie muffig oder anbiedernd auf diesem tollkühnen Parcours. James Bond führt unverzüglich zur Femme fatale. In diesem typisch europäischen Erfahrungsraum ist alles möglich, außer Festschreibung eines Zustands, außer Beharrung, Sich-Einigeln.

Debatte: Athen Deutschlands: Bereits 1574 verfasste der französische Humanist, Philologe und Buchdrucker Henri Estienne II., Henricus Stephanus, ein Lobgedicht auf die Frankfurter Messen. Darin heißt es, so wie Hellas in Athen, so sei Deutschland in Frankfurt zu finden. Nachdem Johannes Gutenberg in Mainz, also nicht weit von Frankfurt entfernt, den Buchdruck revolutioniert hatte, wurde die Frankfurter Messe zum Umschlagsort des Verlagsbuchhandels, der den Handschriftenhandel nach und nach ablöste. Bis ins späte 17. Jahrhundert blieb Frankfurt die zentrale Buchmesse-Stadt Europas. Dann wurde sie von Leipzig überholt. Die Frankfurter Messe verkam zu einer Zusammenkunft von Raubdruckern, wurde schließlich bedeutungslos. Erst 1949 wurde die Tradition der Messe von zwei Frankfurter Buchhändlern wiederbelebt.

Athen Deutschlands: Bereits 1574 verfasste der französische Humanist, Philologe und Buchdrucker Henri Estienne II., Henricus Stephanus, ein Lobgedicht auf die Frankfurter Messen. Darin heißt es, so wie Hellas in Athen, so sei Deutschland in Frankfurt zu finden. Nachdem Johannes Gutenberg in Mainz, also nicht weit von Frankfurt entfernt, den Buchdruck revolutioniert hatte, wurde die Frankfurter Messe zum Umschlagsort des Verlagsbuchhandels, der den Handschriftenhandel nach und nach ablöste. Bis ins späte 17. Jahrhundert blieb Frankfurt die zentrale Buchmesse-Stadt Europas. Dann wurde sie von Leipzig überholt. Die Frankfurter Messe verkam zu einer Zusammenkunft von Raubdruckern, wurde schließlich bedeutungslos. Erst 1949 wurde die Tradition der Messe von zwei Frankfurter Buchhändlern wiederbelebt.

Vom Eifer der französischen Polizeiagenten berichtet der Historiker Adam Zamoyski, der aus einer der vornehmsten polnischen Adelsfamilien stammt und in London lebt. In "Phantome des Terrors" schildert er, wie die gekrönten Häupter Europas nach dem Schock der Französischen Revolution und den Schlachten der Napoleonischen Kriege den "Schwindelgeist" der Freiheit unter Kontrolle zu bringen versuchten. In diesen Jahren entstand die politische Polizei; Bespitzelung, Repression und Zensur bedienten sich zunehmend ausgeklügelter Verfahren. Am Ende standen dennoch die Revolutionen von 1848 und ihr zwiespältiges Erbe von Freiheitsstreben, Demokratieverlangen und nationalistischer Überspannung.

Werte werden beschworen in der Debatte heute - Christentum, Aufklärung, Abendland

Warum die Ähnlichkeiten Ukrainer und Rumänen in wechselseitiger Abneigung vereinen, kann man unter "Bukarest" in Juri Andruchowytschs "Kleinem Lexikon intimer Städte" nachlesen. Es will als "Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik" genutzt werden. Viele Motive aus dem Werk des ukrainischen Schriftstellers, der 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren wurde, sind hier neu zusammengestellt, aktualisiert zu einem radikal subjektiven Bild Europas und einiger weniger amerikanischer Städte. Das Gemeinsame, schreibt Andruchowytsch in Lemberg, der Stadt, in der er studierte, käme am besten in einer Art Roman zum Ausdruck, der davon handeln müsste, "wie seltsame metaphysische Kaufleute, die in einer Art universellem Lemberger Wirtshaus zusammensitzen, der Reihe noch von fernen Welten erzählen. Sie bilden einen Kreis, und wer dran ist, greift ein Motiv aus der Erzählung des Vorgängers auf, Hauptsache, die Kette von Erzählungen wird nicht unterbrochen".

Die öffentliche Rede über den Kontinent scheint seit längerem in Wiederholungen erstarrt, in der Verkrampfung nähern sich Anti-Europäer und Verteidiger einer europäischen Einigung einander an: Europa geht immerzu unter, steht jeden Morgen wieder vor der entscheidenden Krise. Werte werden beschworen, Identitäten gefordert. Christentum, Aufklärung, Vaterländer, Abendland. Doch selbst eine 24-stündige Voltaire-Lesung in der Peterskirche würde nichts daran ändern, dass politische Probleme politisch, ökonomische politökonomisch gelöst werden müssen. Gewiss könnte in einem guten metaphysischen Wirtshausroman auch einer auftreten, der sich am Sollen und an Postulaten berauscht. Die Selbstverständlichkeit Europas aber beginnt jenseits von Identitätswahn und Wertehysterie.

Die politische Imagination, der Diskurs in Europa ist von Vorstellungen vergiftet, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben, die Entwicklung behindern und es erschweren, Probleme angemessen zu bearbeiten - dies ist das Fazit von Adam Zamoyskis ausgreifender Studie über die politische Kultur jener Jahre zwischen Französischer Revolution und Völkerfrühling. Damals entstand das moderne Europa - mit seinen Nationalismen, mit Regierungen, die zusammenarbeiteten, um den status quo aufrecht zu erhalten, mit Massen, deren Interessen und Stimmungen nicht länger ignoriert werden konnten. Politischer Terror wurde ein Teil des Alltags.

Der Sinn für Proportionen litt, die Fähigkeit, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden

Aber nicht die vielen Geschichten über Geheimpolizisten, die förderten oder gar selber schufen, was sie bekämpfen sollten, sorgen für die beunruhigende Aktualität dieser Studie. Hier lässt sich Schritt für Schritt, vom London Pitts und Wellingtons über Metternichs Wien, das zerrissene Italien, das geknechtete Polen bis hin ins Reich der Zaren Alexander und Nikolaus, nachvollziehen, wie die Regierenden sich selber fesselten. Sie beschworen eine Bedrohung, für die Belege fehlten, glaubten bald selbst daran, dass hinter Unruhen und Unzufriedenheiten Geheimorganisationen steckten, wahrscheinlich ein zentrales Komitee mit Sitz - natürlich - in Paris.

Der Sinn für Proportionen, Verhältnismäßigkeit litt, die Fähigkeit, zwischen wichtig und unwichtig, groß und klein zu unterscheiden. 1831 erging ein Ukas, der russischen Studenten das Studium in Frankreich untersagte. Sie gingen an deutsche Universitäten, der französische Einfluss wurde durch Hegel und Marx verdrängt, "was sich auf Dauer als sehr viel gefährlicher für die russische Monarchie herausstellen sollte". Überhaupt stärkten all die Maßnahmen gegen den Schwindelgeist der Freiheit die radikalen Kräfte.

Am verheerendsten aber, so Zamoyski in einer kecken Schlusswendung, wirkte eine neue, der Einbildung entsprungene Sichtweise auf Politik und Gesellschaft insgesamt: sie wurden fortan als dauernder Kampf zwischen denen da unten und denen da oben verstanden. "Beschworen wurde eine Konstellation der Reichen und Mächtigen in ihren komfortablen Zitadellen, belagert von einer gewalttätigen, anarchischen Masse der Armen und Zukurzgekommenen, unter Führung von tollwütigen Terroristen, die diese Zitadellen stürmen und die Gesellschaftsordnung umstürzen wollen." Das ist nicht nur eine Diagnose des 19. Jahrhunderts.

Weder Geschichte noch Kultur taugen als Goldreserve. Aber der Glaube, da liege etwas, auf das man sich verlassen, auf das man zurückgreifen könne, wenn einen die Gegenwart, wie sie es gern tut, überfordert, dieser Glaube ist doch auch typisch für Europa. Er hat etwas Sympathisches, wird ärgerlich, wenn er mit der Weigerung einhergeht, Wirklichkeit wahrzunehmen, die einem zu dicht auf die Pelle rückt. Dann ziehen sich viele ins Gewohnte zurück, graben sich ein an Vergangenheitsfronten.

Andruchowytsch beschreibt dies als "undurchdringliche Wand". Unsichtbare Wände durchziehen unsere Vorstellungswelt. Was die Seelenruhe zu gefährden droht, verschwindet dahinter: etwa der Heroismus und das Pathos der tragischen Revolutionen in der Ukraine. 2004 ein Mysterium: "die massenhafte Rückkehr der Menschen zum Menschlichen".

Zehn Jahre später ist die europäische Aufmerksamkeit groß, das Verständnis gering. 21. Februar, Kiew, Maidan, Andruchowytsch wird angerufen aus Deutschland, Polen, Spanien, Tschechien, Dänemark: "Am Vortag hatten sie auf dem Maidan die Himmlische Hundertschaft erschossen. Ich wollte von jenen Erschossenen erzählen und von ihrem, pardon me, Heroismus. Aber die erschossenen Helden interessierten niemanden. Alle interessierten nur die ,Nazis', ,ultrarechten Extremisten', ,Ultraextraneofaschinazis'". Auch das ein typisch europäischer Augenblick.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: