David Vann: Im Schatten des Vaters:Das Gemetzel der Kleinfamilie

Als David Vann 13 Jahre alt war, brachte sich sein Vater auf dramatische Weise um. Unter dem zwanghaften Gefühl, den Selbstmord wiederholen zu müssen, wurde Vann zum Schriftsteller. Nun liegt seine Geschichte als Buch vor.

Meike Fessmann

"Legend of a Suicide" heißt das Buch des Amerikaners David Vann, aus dem der Suhrkamp Verlag die zentrale Novelle ausgekoppelt hat, die er dem deutschen Lesepublikum unter dem Titel "Im Schatten des Vaters" als eigenständigen Roman präsentiert.

David Vann: Im Schatten des Vaters: David Vann ist inzwischen Schrifsteller und Professor für Creative Writing. Die Erlebnisse seiner Kindheit hat er in "Legend of a Suicide" verarbeitet.

David Vann ist inzwischen Schrifsteller und Professor für Creative Writing. Die Erlebnisse seiner Kindheit hat er in "Legend of a Suicide" verarbeitet.

(Foto: Diana Matar/oh)

Doch "Sukkwan Island", wie der Titel im amerikanischen Original lautet, ist tatsächlich eine Novelle. Sie befolgt deren Formgesetz geradezu mustergültig. Erbarmungslos steuert sie auf eine wahrhaft ungeheure Begebenheit zu, von deren Wucht sie gleichsam in Stücke gerissen wird: in ein Vorher, das trotz aller Düsternis noch Hoffnung kennt, und in ein Nachher von brutaler Ausweglosigkeit. In "Legend of a Suicide" wird sie von fünf Kurzgeschichten flankiert, die sie gewissermaßen von außen stützen. Diese Form ist zwingend für das, was der Autor mit diesem Buch vorhatte: das zentrale Ereignis seiner Kindheit in verschiedenen Perspektiven so in Szene zu setzen, dass es beidem gerecht wird, der inneren Wahrhaftigkeit des Erlebten und der ganz anders gearteten Gesetzmäßigkeit der Literatur.

David Vann wurde 1966 auf Adak Island in Alaska geboren, wuchs in Ketchikan auf und lebt heute als Schriftsteller und Professor für Creative Writing in Kalifornien. Als er dreizehn Jahre alt war, beging sein Vater auf dramatische Weise Selbstmord. Während er mit seiner zweiten Frau, David Vanns Stiefmutter, telefonierte, die sich von ihm getrennt hatte, nachdem er sie genau so betrogen hatte wie seine erste Frau, schoss er sich mit einer 44er Magnum in den Kopf: "I love you but I'm not going to live without you", soll er zu ihr gesagt haben.

Was der Selbstmord eines nahen Verwandten für die Angehörigen bedeutet, davon hat David Vann in Interviews und Zeitungsartikeln berichtet, vom Gewirr aus Scham, Schuld, Wut, Verlassenheit und Verzweiflung, und auch davon, was der Tod seines Vaters bei ihm persönlich auslöste: Jahrzehnte der Schlaflosigkeit und des zwanghaften Gefühls, dessen Selbstmord wiederholen zu müssen. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte der Vater ihn gefragt, ob er für ein Schuljahr zu ihm nach Fairbanks, Alaska, ziehen wollte. Doch er lehnte ab und blieb lieber bei seiner Mutter und der jüngeren Schwester in Kalifornien, wohin sie nach der Scheidung gezogen waren.

Angelehnt an Chaucers "The Canterbury Tales", entwirft "Legend of a Suicide" sechs Porträts des Vaters und des eigenen Verlusts. Erst zusammen bilden sie die ganze Geschichte. Doch "Sukkwan Island" ist immerhin ihr Herzstück. Es verwandelt die zentralen Elemente der autobiographischen Erfahrung in ein packendes und brutales Stück Literatur, das auf der Suche nach Rettung in eine noch größere Katastrophe mündet.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was die Novelle so spannend macht.

Rachefeldzug von archaischer Grausamkeit

Hätte er den Selbstmord des Vaters verhindern können, wenn er zu ihm nach Alaska gezogen wäre? Das ist die Frage, die diese Novelle bewegt, so unerbittlich, dass sie ihre eigene Logik entfaltet. David Vann verlegt das imaginierte Jahr der Gemeinsamkeit an einen Ort, der abgeschiedener nicht sein könnte: auf jene kleine Insel in Südostalaska, die der Novelle ihren Titel gibt. Schon im Flugzeug, das die beiden dorthin bringt, erfährt der 13jährige Roy die erste Lektion des nun anstehenden Privatunterrichts.

Die Welt, so erzählt der Vater, sei ursprünglich eine Scheibe gewesen. Tiere streunten dort herum, "die größeren Kreaturen fraßen die kleineren Kreaturen, und keiner fand was dabei. Dann kam der Mensch, und er kauerte sich an die Ränder der Welt, haarig, dumm und schwach, und er vermehrte sich und wurde so zahlreich und irre und blutrünstig vor lauter Warten, dass die Ränder der Welt sich zu krümmen begannen. Die Ränder bogen sich langsam nach unten, Mann und Frau und Kind kraxelten übereinander, um auf der Welt zu bleiben, und kratzten einander bei der Kletterei das Fell vom Rücken, bis alle Menschen nackt und kalt und blutrünstig waren und sich am Ende der Welt festklammerten."

Mit dieser Umdeutung der Genesis zur Katastrophenerzählung der Kleinfamilie, die mit ihrem Gemetzel die natürliche Balance der Wildnis zerstört, hat David Vann das Spielfeld eröffnet, auf dem er Vater und Sohn aussetzt. Kaum auf der Insel angekommen, muss Roy feststellen, dass der Vater zwar eine Hütte und Vorräte gekauft hat, dass er aber nicht im mindesten darauf vorbereitet ist, was sie dort erwartet. Während sie Tag für Tag gegen die Unbilden der Natur kämpfen, gegen Regen, Sturm und Schnee, gegen nass werdendes Feuerholz, die Einrichtung und Vorräte vernichtende Bären, während sie beim Wandern und Jagen ihr Leben riskieren und hin und wieder auch Glücksmomente genießen, die Roy vor allem allein und beim Angeln empfindet, wird immer deutlicher, mit welchem Feind sie nicht zurechtkommen: mit der Depression des Vaters, seinem stechenden Kopfschmerz und dem nagenden Begehren nach seiner Ex-Frau Rhoda.

Grausamer als in dieser Wildnis lässt sich kaum darstellen, was familiärer Missbrauch bedeutet. Die Natur mit ihrer Logik des Fressens und Gefressenwerdens ist harmlos im Vergleich zu dem, was Roy aushalten muss: das nächtliche Schluchzen des Vaters, die Übergriffe, wenn er sein Seelenleben vor ihm ausbreitet, den emotionalen Druck, der ihn daran hindert, die Insel zu verlassen, jedes Mal, wenn das Flugzeug vorbeikommt, um sie mit dem Nötigsten zu versorgen.

Eines Tages kommt Roy von einem Spaziergang zurück und sieht seinen Vater mit einer Pistole in der Hand am Funkgerät sitzen. "Tu mir das nicht an, du Arschloch", hört er Rhoda sagen. Der Vater schaltet das Gerät aus und lässt den Blick durchs Zimmer schweifen, "als wäre ihm irgendeine Kleinigkeit peinlich". Achtlos reicht er Roy die Pistole und verlässt die Hütte.

Als er zurückkommt, findet er den Körper seines Sohnes, "den Körper, nicht wirklich seinen Sohn, denn der Kopf fehlte." Er hebt die 44er Magnum auf und setzt sich neben dessen Überreste. "Nicht mal umbringen kannst du dich, sagte er laut. Du kannst nur so tun, als ob. Du bist die nächsten fünfzig Jahre deines Lebens wach und wirst jede einzelne Minute daran denken. Das hast du davon."

Die eigentliche Spannung der Novelle entsteht aus der Verschränkung widerstrebender Gefühle. Denn "Sukkwan Island" ist beides zugleich: ein Fall von nachgetragener Liebe, bei dem der Sohn den Selbstmord des Vaters so unbedingt zu verhindern versucht, dass er schließlich keinen anderen Weg weiß, als ihn an sich selbst zu vollziehen, und ein Rachefeldzug von archaischer Grausamkeit. All die Bilder, die in David Vanns Kopf herumspuken mögen, hetzt er dem überlebenden Vater auf den Hals.

Ein Müllsack verbietet sich von selbst

Mit dem Torso des Sohnes als Unterpfand seines Scheiterns lässt er ihn wochenlang auf der Suche nach Hilfe umherirren. Jim fühlt sich verpflichtet, den toten Sohn zur Mutter zurückzubringen, damit er im Familienkreis bestattet werden kann. Kein grausames Detail des Verwesungsprozesses wird ausgelassen, vom blutigen Stumpf des Halses, über die Fliegen, die sich daran zu schaffen machen, bis hin zum unerträglichen Geruch und der Fäulnis, die aus dem Schlafsack suppt, in den er den Leichnam gesteckt hat, weil sich ein Müllsack von selbst verbot.

"Legend of a Suicide" kam 2008 in kleiner Auflage in der University of Massachusetts Press heraus. Erst mit der Publikation bei Viking Penguin als Roman begann der Erfolg des mittlerweile in sechs Sprachen übersetzten und in fünfzig Ländern erschienen und vielfach preisgekrönten Buches, dessen Widmung den autobiographischen Bezug explizit macht. Nicht jedes Stück Literatur verlangt nach der Kenntnis biographischer Details, manchmal schadet das auch.

Doch in diesem Fall kann man die gewaltige Transformation des realen Ereignisses, deren Energie die von Miriam Mandelkow stilsicher ins Deutsche übertragene, zutiefst amerikanische Novelle antreibt, nur wahrnehmen, wenn man davon weiß. Es ist falsch verstandener Purismus, sie derart nackt auf den deutschen Markt zu schicken, ohne den Hinweis auf die Biographie und vor allem ohne die flankierenden Kurzgeschichten.

DAVID VANN: Im Schatten des Vaters. Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 185 Seiten, 17,90 Euro.

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