David Camerons Appell:Arm, aber redlich

Als Antwort auf die Ausschreitungen beschwört der britische Premierminister Cameron Moral und Zusammenhalt und verschleiert damit seine Politik. Denn staatliche Zuwendungen, die gekürzt werden, sind durch Gefühlsäußerungen nicht zu ersetzen. Und über die Exzesse des britischen Liberalismus halten Camerons Konservative weiterhin ihre schützende Hand.

Johan Schloeman

"Mind the gap" - so heißt die berühmte Durchsage in der Londoner U-Bahn: Man möge doch auf den Abstand achten, der zwischen Bahnsteig und Waggon klafft, um nicht hineinzufallen.

AUSSCHREITUNGEN IN LONDON

Ausschreitungen in London: Die Zerstörungswut perspektivloser Jugendlicher, erklärte der britische Premier David Cameron, sei nicht etwa der Armut geschuldet, sondern der kulturellen Verwahrlosung.

(Foto: DPA)

"Mind the gap" - so hieß auch ein Buch eines gewissen Ferdinand Mount, das vor sieben Jahren erschienen ist, noch unter der Regierung von Tony Blair. Es ging darin um "die neue Klassentrennung in Großbritannien".

Verschärfter Materialismus und schwindendes Anstands- und Gemeinschaftsgefühl, so warnte Ferdinand Mount damals, hätten die britische Konsum- und Dienstleistungs-Gesellschaft zerrüttet, und dieser Zustand sei fast noch schlimmer als die gute alte, die traditionelle englische Klassentrennung. Denn durch das Verschwinden des gemeinsamen kulturellen Kitts sei der Abstand zwischen Arm und Reich - the gap - auf der Insel immer größer und brutaler geworden.

Besagter Ferdinand Mount ist ein Verwandter von David Cameron, dem amtierenden britischen Premierminister und Vorsitzenden der Konservativen Partei, welcher jetzt die "kaputte Gesellschaft" ("broken society") seines Landes durch moralischen Zusammenhalt wieder "reparieren" will. Camerons Mutter Mary Cameron, geborene Mount, ist eine Cousine jenes Ferdinand Mount.

David Cameron hat die verwandtschaftliche und geistige Nähe zu "Ferdie" Mount auf seinem Weg zur Macht öffentlich nie besonders betont. Denn dieser "Ferdie" ist - wie es eben so geht bei gut vernetzten und vielseitig begabten Mitgliedern des Establishments - nicht nur Roman- und Sachbuchautor, Leitartikler und Literaturkritiker, er war nicht nur zehn Jahre lang Herausgeber des Times Literary Supplement (TLS), eines der führenden intellektuellen Organe des Landes - nein, er war auch von 1982 bis 1983 als Chefdenker von Margaret Thatcher angestellt, als Leiter des damals neu geschaffenen "Policy Unit" der gefürchteten Premierministerin.

Zwar hat sich Ferdinand Mount längst von den grausameren Seiten des Thatcher'schen Wirtschaftsliberalismus distanziert und gilt als einer der sogenannten caring Tories - der sozial sensiblen Konservativen, zu welchen auch David Cameron gerechnet werden will.

Strategische Abstandnahme

Nun war es aber Camerons Plan, als progressiver, jugendlicher und mitfühlender Mann der Mitte, als Konservativer mit Herz, iPod und ökologischem Bewusstsein durchzustarten und so die New-Labour-Regierung von Tony Blair und Gordon Brown abzulösen - und nichts wäre für diesen Plan tödlicher gewesen als der Ruf eines Thatcheristen. Also berief er sich nicht allzu laut auf Thatchers früheren Chefintellektuellen.

Trotz dieser strategischen Abstandnahme hat Camerons Konzept einer "großen", einer "stärkeren Gesellschaft" aber Denkern wie Ferdinand Mount viel zu verdanken. Dies zeigt sich nun besonders an jener groß gemeinten Moral-Rede, die Cameron am Montag als Antwort auf die jüngsten Ausschreitungen gehalten hat, wobei der geschliffene Eton-Absolvent demonstrativ vor einem Graffiti-Artwork in einem Jugendclub auftrat.

Die Zerstörungswut perspektivloser Jugendlicher, erklärte Cameron, sei nicht etwa der Armut geschuldet, sondern der kulturellen Verwahrlosung. Wer Abhilfe schaffen wolle, müsse sich für Bildung, für intakte Elternhäuser ("two parent families") und mehr Gemeinschaftlichkeit einsetzen. Auch die Spitzen der Gesellschaft, die Parlamentarier etwa oder auch "die vornehmsten Vorstandsetagen", dürften kein Vorbild mehr für "moralischen Niedergang und schlechtes Verhalten" abgeben.

Ganz ähnlich hatte es in Ferdinand Mounts "Mind the gap" geklungen: Die örtliche Trennung von Arm und Reich sei heute viel krasser geworden als im alten England; früher habe es keinen derart vulgären Kult von Luxus und Celebrity gegeben, stattdessen hätten auch die Reichen die "Würde" des einfachen Landbewohners und Arbeiters respektiert; die unteren Klassen hätten ihrerseits Werte wie "Solidarität, Sparsamkeit, Sauberkeit und Selbstdisziplin" gepflegt. "Die komplexe Intimität der Gemeinschaft", so Mount, "wurde verdrängt durch die kalte Simplizität des Marktes."

So wird deutlich, was hinter Camerons zeitgemäß klingender Zusammenhalts-Rhetorik steckt: Es ist letztlich ein nostalgisches konservatives Genrebild, welches das "Einfach, aber redlich"-Image der englischen Arbeiterklasse à la Ken Loach mit den angeblichen alten Tugenden der ständischen Gesellschaft amalgamiert.

Kurios und verschleiernd ist diese kommunitaristische Rhetorik nicht nur deshalb, weil sie staatliche Zuwendungen, die gekürzt werden, durch Gefühlsäußerungen ersetzt; sondern auch, weil es zugleich immer noch Camerons Konservative sind, die auch über die Exzesse des britischen Liberalismus ihre schützende Hand halten.

Cameron will dem Londoner Finanzmarkt partout nicht die allseits geforderte Regulierung zumuten; zugleich geißelt er in seiner Nachbrandrede genau das, was Leute seines Schlages traditionell als förderlich für das Gemeinwohl ansehen: "Gier" und "Verantwortungslosigkeit". Mind the gap.

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