Das Wort Balkanisierung:Wie der Teufel eine Heimat erhielt

Flüchtlingsmassen, tote Körper, Konzentrationslager: Der Balkan scheint inzwischen vor allem das zu sein, was Europa nicht ist. Doch die Grenze verläuft in den Köpfen viel schärfer als in der Landschaft.

Slavenka Drakulic

Ich mag die Bezeichnung "Balkan" nicht. Denn ich habe miterlebt, wie das alte "Wort" Balkan durch das Verb "Balkanisieren" zu neuem Leben erwachte - und mit Tausenden anderen leide ich an den Folgen dieser Bedeutungsänderung: Wir alle haben von der "Balkanisierung" der Sowjetunion gehört.

In Zeitungen entdecke ich Überschriften wie "Die Balkanisierung Kenias" oder "Washington treibt Boliviens Balkanisierung voran". Erst vor kurzem begegnete mir in einem Buch von Ryszard Kapuscinski der Satz: "Der Afrikaner kennt sich in dieser Struktur von Freundschaften und Feindschaften zwischen Stämmen gut aus und steht ihnen nicht weniger kritisch gegenüber als jenen, die heute im Balkan existieren."

"Geopolitischer Ausdruck"

Wenn Sie Google konsultieren, finden Sie 277.000 Einträge für "Balkanisierung", und Wikipedia erklärt Ihnen, dies sei ein "geopolitischer Ausdruck", der "ursprünglich genutzt wurde, um den Prozess der Fragmentarisierung oder Aufspaltung einer Region oder eines Staates in kleinere Regionen oder Staaten zu beschreiben, die sich einander oft feindlich oder non-kooperativ begegnen...

Der Term beschreibt außerdem andere Formen von Desintegration, zum Beispiel die Aufgliederung des Internets in separate Enklaven... In der amerikanischen Stadtplanung beschreibt der Ausdruck den Prozess beim Aufbau von Gated Communities."

Der Balkan scheint, nach solchen Formulierungen zu urteilen, vor allem das zu sein, was Europa nicht ist. Gleichgültig, was die Geographie sagt: Die Grenze verläuft in den Köpfen viel schärfer als in der Landschaft.

Die Ruinen von Vukovar

Wenn Sie Ihre Augen für einen Moment schließen und "Balkan" sagen, fallen Ihnen wahrscheinlich Bilder von Flüchtlingsmassen ein, weinende Frauen mit Kopftüchern, die Ruinen von Vukovar, tote Körper, noch mehr tote Körper, Christiane Amanpour, die auf CNN von einem Ort voller Tragödien und Zerstörung berichtet.

Und Sie erinnern sich vielleicht an die Zahlen (über 7000 muslimische Männer in Srebrenica ermordet, 60.000 Frauen vergewaltigt, 200.000 Tote in Bosnien, 10.000 Kinder verletzt ...). Wenn Sie keine Zahlen behalten haben sollten, denken Sie vielleicht an Gesichter: Das des zum Skelett abgemagerten Mannes hinter dem Stacheldrahtzaun des serbischen Konzentrationslagers Omarska in Bosnien. Oder die Mienen der mutmaßlichen Kriegsverbrecher: Ratko Mladic, der langhaarige Radoslav Karadzic oder Slobodan Milosevic.

Vor zehn Jahren machte Maria Tordovas Buch "Die Erfindung des Balkans" den Menschen diese "imaginäre Geographie", wie der Kulturkritiker Edvard Said sagen würde, noch bewusster.

Dunkler, gefährlicher, aber auch exotischer Ort

Tordova behauptete, der Name Balkan sei zwar alt (die türkische Bezeichnung des Berges Stara Planina in Bulgarien), der Ausdruck aber stamme vom Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Region durch eine "geistige Kolonisierung" zu einem dunklen, gefährlichen, aber auch exotischen Ort geworden sei.

Dieser Bedeutungswandel ist auch vielen westlichen Schriftstellern zu verdanken, von Rebecca West zu Agatha Christie, Bram Stoker, Karl May, den Nachkriegserinnerungen von Politikern wie D. Owen oder R. Holbrooke oder den Reisebüchern von Robert D. Kaplan und Peter Handke.

Der Balkan wurde zu einem Platz, wo Mythologie über Geschichte herrscht, wo ein wildes und exotisches Volk haust, für das Blut und Zugehörigkeit die wichtigsten Werte sind, wo Konflikte und religiöse Kriege ständig drohen - zu einem Ort der Unsicherheit.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was das Wort Balkan im früheren Jugoslawien bedeutete.

Wie der Teufel eine Heimat erhielt

Kein Wunder, dass auch die Menschen, die diese Mischterrain aus Ort-Name-Verb-Bild-Symbol bewohnen, zu Gefangenen der Konnotationen werden. Sie (wir) gehören nicht gerne dorthin, weshalb wir alles versuchen, nicht zu diesem Balkan zu zählen - "Balkan - das sind die anderen!", wie Rastko Mocnik, ein slowenischer Soziologe, meint.

Und natürlich orientieren sich die meisten von uns (Slowenen, Kroaten, Serben) stärker gen Osten, wohin sich die symbolische, im Geiste vorgestellte Grenze sowieso hin verschob, erst vom Wiener Südbahnhof nach Triest und Ljubljana, später nach Zagreb und Sarajevo, dann nach Belgrad und sogar noch süd-östlicher, nach Pristina. Keine Grenze der Welt ist so flexibel wie diese.

Nicht immer negativ besetzt

Das Wort "Balkan" wurde im ehemaligen Jugoslawien nicht häufig gebraucht - und wenn, dann war es nicht immer negativ besetzt. Es diente zum einen dazu, ein bestimmtes Verhalten als primitiv zu kennzeichnen - zum Beispiel, wenn ein Mann seine Frau schlug.

Die berühmte Bezeichnung des Schriftstellers Miroslav Krleza für Politik - "balkanska krcma", das balkanische Wirtshaus, in dem, sobald das Licht einmal ausgeschaltet ist, der Faustkampf beginnt - war die andere Weise, in der wir das Wort einsetzten.

Die jungen Leute kannten auch Johnny Stulics Song "Balkane moj" aus den achtziger Jahren, dessen Text sich auf keine der "alten" Bedeutungen bezog. Wenn wir aber heute die negativen Vorstellungen nicht mehr loswerden, dann liegt das offenbar auch daran, dass sie nicht vollständig aus der Luft gegriffen zu sein scheinen. Neue Grenzen sind gezogen worden, keine symbolischen, sondern reale, mit blutroter Farbe.

Was weiß die junge Generation jenseits der Klischees?

Lassen Sie uns kurz nachdenken: In all diesen Jahren - siebzehn sind seit Beginn des Krieges vergangen, dreizehn seit seinem Ende - ist eine ganze Generation junger Menschen erwachsen geworden. Nicht nur im Balkan, sondern auch im Westen. Was wissen sie? Was weiß die junge Generation hier über den Balkan, jenseits der üblichen Klischees?

Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich Probleme mit West-Europäern habe. Ich vermute, dass die Menschen nach so langer Zeit immer noch nicht verstehen wollen, wie alles gekommen ist... Das sei zu kompliziert, sagen sie oft.

Zuerst dachte ich, dass sie vielleicht nur zu faul sind, endlich die wenigen historischen Fakten zu lernen. Aber nachdem mir immer wieder und wieder dieselben Fragen gestellt wurden, glaube ich jetzt, dass die schrecklichen Bilder aus dem Fernsehen, von den Kriegen im Balkan, die beste Entschuldigung dafür sind, uns nicht zu verstehen: Tatsächlich fungieren diese Bilder und Erinnerungen als ein Art Schutzschild.

Angst vor der Ähnlichkeit

Wenn die Europäer sagen würden, sie verstünden die angsteinflößenden Ereignisse, würde das bedeuten, wir wären gleich oder zumindest ähnlich. Es ist natürlich viel sicherer, diese Möglichkeit von sich zu weisen und an der Notwendigkeit der Distanz zu jenen Nachbarn festzuhalten (sich immer daran erinnernd, dass der Balkan das ist, was Europa nicht ist).

Als wäre Europa ein von der Berührung des Teufels verschontes Terrain... Als wären die europäischen Nationalstaaten oder Revolutionen nicht aus Blut geboren... Als hätte es Auschwitz nie gegeben... Ja schon, aber - könnte jemand einwenden - das alles passierte nicht unter unseren Augen! Kein Blut, keine Messer, keine Metzelei, keine sichtbare Brutalität.

Die Bilder von ausgemergelten Körpern? Sie sind zwar nicht vergessen, aber in die tiefsten Schichten des Gedächtnisses gedrängt worden, um Platz zu schaffen für neue Horrorbilder aus Bagdad oder Abu Graib. Letztlich kann man Grausamkeiten nur begrenzt aufnehmen; es muss ein Schreckenspensum geben, nach dessen Überschreitung Gewalt nichts mehr bedeutet.

Wie lange brauchten die Deutschen?

Das erinnert mich daran, wie viel Zeit die Deutschen gebraucht haben, um die ihnen entgegengebrachten Vorurteile loszuwerden, die Vorstellung einer effizienten, völkermordenden Maschinerie, eines autoritären, exessiv bürokratischen deutschen Charakters.

Dieser Gedanke macht mir Hoffnung: Die 13 Jahre nach Kriegsende erscheinen bei diesem Vergleich gar nicht mehr so lang, oder? Andererseits: wenn nach fast neun Jahrzehnten die Bedeutung des Wortes "Balkan" auf die eines transitorischen Verbs reduziert wird, wie lange wird es dauern, das umzukehren?

Die Autorin, geboren 1949 in Rijeka, lebt in Wien und in Istrien. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt der Roman "Frida" (Zsolnay Verlag, Wien 2007).

Deutsch von Eva-Maria Träger

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: