Das wilde Leben des Oskar Maria Graf:"Er war besessen von schwarzer Seidenwäsche"

Durch die Nazis ins Exil gezwungen, führte Oskar Maria Graf in New York ein turbulentes Leben. Lisa Hoffman, die eine Affäre mit dem Schriftsteller hatte, erinnert sich.

Hubertus Breuer

"Jetzt spricht er wohl Engelisch", sagt Lisa Hoffman und lacht laut auf, als sie an Oskar Maria Graf zurückdenkt, den Bäckersohn und bayrischen Emigrantendichter, der in Amerika nie richtig die Landessprache erlernte und der am 22. Juli 114 Jahre alt geworden wäre.

Das wilde Leben des Oskar Maria Graf: Es war schon Mitternacht, als Oskar Maria Graf seine Geliebte Lisa Hoffmann sturztrunken aus einer New Yorker Bar anrief. "Du musst mich retten", flehte er. Hoffman eilte in die Bar und brachte ihn in ein Café, um ihn auszunüchtern. Dort entstand diese Aufnahme.

Es war schon Mitternacht, als Oskar Maria Graf seine Geliebte Lisa Hoffmann sturztrunken aus einer New Yorker Bar anrief. "Du musst mich retten", flehte er. Hoffman eilte in die Bar und brachte ihn in ein Café, um ihn auszunüchtern. Dort entstand diese Aufnahme.

(Foto: Foto: privat)

Mitte der fünfziger Jahre war die heute 89-jährige Hoffman in New York seine Geliebte. Es war eine Affäre, beherrscht vom Eros - wie das Gedicht "Der Lüstling spricht" unzweideutig bezeugt - und von zwei kantigen Charakteren, die letztlich nicht zueinander fanden.

Heute lebt die betagte statthafte Dame in einer Seniorensiedlung in Southbury, Connecticut, inmitten von viel Grün, Stille und Streifenhörnchen, die über ihren Holzbalkon huschen.

Zwei Wochen vor Beginn des 2. Weltkriegs war die jüdische Tochter eines Bielefelders Kaufhausteilhabers nach England entkommen. Nach dem Krieg emigrierte sie nach Amerika, wo sie in New York als US-Korrespondentin für die Schweizer Illustrierte arbeitete.

Was sie in Deutschland und nach dem Krieg in Großbritannien entbehrt hatte, machte sie in Amerika wett. Sie genoss das Leben in vollen Zügen, wie sie in ihrer tragisch-komischen Autobiographie "Fräulein Hoffmans Erzählungen" beschreibt, die noch einen Verleger sucht.

SZ: Ihre ersten Lebensjahre haben Sie in München verbracht - damals, in den zwanziger Jahren, hätten sie Oskar Maria Graf glatt über den Weg laufen können.

Lisa Hoffman: Ja, dann wäre er vielleicht mein Märchenonkel geworden (lacht) und nicht später mein Liebhaber. Wir haben damals in der Elisabethstraße in Schwabing gewohnt. Ich bin jeden Tag mit unserem Dienstmädchen Bier holen gegangen. Ich weiß noch, dass außen auf dem Krug meines Vaters stand: "Singen, Trinken und Lieben ist das Schönste hienieden" - was ganz gut auf mein Leben passt. Als ich zehn Jahre alt war, ist meine Familie aber nach Frankfurt gezogen.

SZ: Haben Sie dort Antisemitismus erlebt?

Hoffman: Ja, mit der Machtergreifung Hitlers verschlechterte sich unsere Lage zusehends, obwohl mein Vater versuchte, die politische Lage zu ignorieren. Ich bin mit fünfzehn Jahren der Schiller-Schule in Sachsenhausen verwiesen worden. Als ich in den sechziger Jahren dort war, hat sich der damalige Direktor noch geweigert, mir meine Zeugnisse auszuhändigen. Die jetzige Schulleiterin hat mir nicht nur mein Abgangszeugnis geschickt, sondern zum hundertjährigen Bestehen der Schule in einer Festschrift einen Teil meiner Erinnerungen abgedruckt.

SZ: Wie kam es, dass Sie ausreisen konnten?

Hoffman: Wir hatten jüdische Untermieter, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren, unter ihnen ein Konditor und ein Oberkellner. Mit ihrer Hilfe veranstaltete meine Mutter Kurse, bei denen wir lernten, wie man servierte, backt und kocht - denn wer solche Fähigkeiten vorweisen konnte, hatte mehr Chancen, ein Visum zu bekommen.

SZ: Wussten Sie, was es für einen Einschnitt bedeutete, als sie zwei Wochen vor Kriegsbeginn nach England ausreisten?

Hoffman: Ich war 20jährig, sehr naiv, beinahe noch ein Kind. Meine Eltern haben nur selten in unserer Gegenwart über Politik geredet. Und in England habe ich dann als Domestik gearbeitet - und galt dort als "feindliche Ausländerin", weil ich aus Deutschland kam. Aber ich wusste natürlich, dass ich es dort viel, viel besser als in Deutschland hatte.

SZ: Ihre Eltern...

Hoffman: ... und mein Bruder wurden beim Versuch, die Schweizer Grenze zu überqueren, erschossen. Es mag sie jemand denunziert haben. Aber das ist immer noch besser, als in einem Konzentrationslager ermordet zu werden.

SZ: Sie haben geschrieben, dass Sie zuerst nicht geweint haben.

Hoffman: Ja, habe ich nicht. Das dauerte. Von meiner Mutter habe ich nicht einmal ein Foto.

SZ: Als Sie schließlich 1946 nach Amerika kamen...

Hoffman: ...übernachtete ich erst in einem Stundenhotel. Gegenüber gab es ein Café. Als ich dessen jüdischen Besitzer meine Geschichte erzählte, hat er mich sofort einem Notar und Stammgast vorgestellt, der mir umsonst ein Dokument beglaubigte. Hier wurde mir zum zweiten Mal bewusst, dass ich jüdisch bin - aber diesmal, weil alle so nett waren. Zum Beispiel hat mir der berühmte russische Geiger Nathan Milstein bei einem Zahnarzt, bei dem ich Arbeit gefunden hatte, ein Ständchen gespielt. Das war so schön, da habe ich geweint.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Lisa Hoffmann Oskar Maria Graf kennen lernte.

"Er war besessen von schwarzer Seidenwäsche"

SZ: Wie haben Sie dann Oskar Maria Graf kennen gelernt?

Das wilde Leben des Oskar Maria Graf: Die Prinzessin: Lisa Hoffman posiert für eine Geburtstagskarte zum 114. Geburtstag Oskar Maria Grafs.

Die Prinzessin: Lisa Hoffman posiert für eine Geburtstagskarte zum 114. Geburtstag Oskar Maria Grafs.

(Foto: Foto: privat)

Hoffman: Freunde haben mich zu dem Stammtisch in der Upper East Side mitgenommen, an dem Oskar Maria Graf mehr oder minder Hof hielt. Den gibt es heute noch, und er nennt sich passend "Oskar Maria Graf Stammtisch". Das waren jeden Donnerstag so rund zehn Personen, meist deutsche Emigranten. Oskar wurde das Bier in seinem eigenen Krug serviert. Und wenn er leer war - und das war im Laufe des Abends oft der Fall -, konnte er am Boden in einem Durchscheinbild König Ludwig II sehen. Und wenn er auch fast kein Englisch sprach, wusste er doch zum Ober zu sagen: "Bring me noch a little beer".

SZ: Wie ging es da sonst zu?

Hoffman: Die waren sehr intellektuell. Und Oskar war die Hauptperson. Manchmal hat er ein Gedicht rezitiert, er war ein guter Erzähler und hat von Leuten berichtet, mit denen er korrespondierte, wie etwa Thomas Mann.

SZ: Wie lange haben Sie ihn vorher gekannt, bevor...

Hoffman: ...es mehr persönlich wurde? Nicht sehr lange. In einem Taxi auf dem Weg nach Hause versuchte er, mir die Kleider vom Leib zu reißen, und der Taxifahrer konnte doch alles sehen (lacht).

SZ: Und so kam eines zum anderen?

Hoffman: Ja, aber ich war damals noch mit dem Maler Raymond Kanelba zusammen - und der war fürchterlich eifersüchtig. Und das ist jetzt etwas Privates, das Ihre Leser vielleicht nicht interessiert. Als Oskar bei mir im Village war, ist das Bett unter uns zusammengebrochen. Und ich war voller Angst, was Raymond sagen würde, wenn er das sieht. Und da habe ich alle möglichen Telefonbücher und andere Dinge unter dem Bett gestapelt, so dass es Raymond nicht bemerkt hat.

SZ: War Ihr Verhältnis immer so turbulent?

Hoffman: Es ging schon hoch her. Einmal klingelte gegen Mitternacht das Telefon bei mir. Es war Oskar, völlig besoffen, der mich von einer Bar anrief, und ins Telefon sagte: "Du musst mich retten". Und er fügte hinzu: "Und zieh' dein schwarzseidenes Kleid an." Und verblödet wie ich war, bin ich sofort aus dem Bett gesprungen, habe ein Taxi genommen und ihn aus der Bar gezogen. Und dann habe ich ihn zu einer kleinen Konditorei geschleppt, die noch geöffnet hatte, um ihn mit einem Kaffee etwas auszunüchtern.

SZ: Sie wollten nicht mit Oskar Maria Graf zusammenbleiben?

Hoffman: Er hatte ein solches Geltungsbedürfnis, das war schwer erträglich für mich. Aber die Gisa, die er dann getroffen hat, hat ihn ja angebetet; das war die richtige Person für ihn (Gisela Blauner; Graf ging mit ihr 1962 seine dritte Ehe ein). Ich weiß noch, als ich am Stammtisch einmal etwas in mein Scheckbuch eintrug. Da hat mich Oskar wütend angesehen, weil ich ihm für einen Augenblick nicht meine hundertprozentige Aufmerksamkeit schenkte. Später, als unser Verhältnis nur noch platonisch war, meinte er: "Ja, wenn Du Dich nicht so benommen hättest, wäre ich mit dir gegangen." Als ob er mir da einen großen Gefallen getan hätte.

SZ: Er war damals aber verheiratet.

Hoffman: Das war kein Hinderungsgrund. Ich hätte beinahe ein Buch geschrieben mit dem Titel "The perfect Mistress". Das ist in der Tat eine Kunst, dass man es so handhabt, dass es niemanden verletzt. Ich war die perfekte Geliebte für die Ehefrau. Ich habe Geburtstagskarten für sie gekauft und ihn daran erinnert - und so hat er sich Zeit gespart, und ich hatte mehr Zeit mit ihm.

SZ: Haben Sie Grafs Frau gekannt?

Hoffman: Ja, Mirjam. Das war die Stiefschwester von Manfred George, dem Chefredakteur der jüdischen New Yorker Wochenzeitung Aufbau.

SZ: Kam sie zum Stammtisch?

Hoffman: Nein, das war auch damals schon mehr eine Freundschaft zwischen den Beiden.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie das Verhältnis endete.

"Er war besessen von schwarzer Seidenwäsche"

Das wilde Leben des Oskar Maria Graf: Tolstoi-Fan Graf: Der Schriftsteller im Jahr 1955 am Schreibtisch in seiner New Yorker Wohnung. Dahinter das Bild seiner Mutter Resl Graf und ein Portrait des russischen Romanciers.

Tolstoi-Fan Graf: Der Schriftsteller im Jahr 1955 am Schreibtisch in seiner New Yorker Wohnung. Dahinter das Bild seiner Mutter Resl Graf und ein Portrait des russischen Romanciers.

(Foto: Foto: privat)

SZ: Und wie sahen Sie ihn?

Hoffman: Vom Aussehen her war er eigentlich nicht mein Typ. Aber er war ein phantastischer und faszinierender Mensch. Vom Bäckerjungen zum bekannten Schriftsteller, sein Widerstand gegen die Nazis, sein Aufsatz "Verbrennt mich!" 1933, als seine Werke bei der ersten Bücherverbrennung übergangen wurden - das ist schon großartig.

SZ: Er nannte Sie Prinzessin - warum?

Hoffman: Wegen Heines Gedicht "Die Ilse": "Ich bin die Prinzessin Ilse und wohne im Ilsenstein, Komm nach meinem Schlosse, wir wollen selig sein."

SZ: Er hat Ihnen ja auch ein Gedicht geschrieben...

Hoffman: Wenn ich das heute lese, spüre ich noch diese Verbindung, die es zwischen uns gab. Er war zum Beispiel besessen von schwarzer Seidenwäsche. Und auch ich hatte, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, seit ich ein aufblühendes Mädchen war, eine besondere Faszination für schwarze Dessous. Und das habe ich in einem Fall geschickt ausgenutzt.

SZ: Ach ja?

Hoffman: Einmal kam ich zum Stammtisch und zeigte einer Dame, die neben mir saß, sehr offen die schwarze Seidenunterwäsche, die ich gerade erstanden hatte. Als der in ein Gespräch vertiefte Oskar das sah, fing er fast zu stottern an.

SZ: Sie haben Humor. Haben Sie denn seine Scherze geschätzt?

Hoffman: Nein, das war ja mehr ein Bauernhumor. Außerdem war er ja sehr deprimiert, was die politische Weltlage anging. In einem Brief schrieb er mir aber, dass ich ihm seine Heiterkeit wiedergebe.

SZ: Wie lang dauerte die Affäre?

Hoffman: Rund ein Jahr, von 1954 bis 1955. Auch hinterher haben wir uns bisweilen noch nachmittags in einem Café in Washington Heights getroffen, wo er lebte, und wir haben uns ganz vernünftig unterhalten, weil er zu der Uhrzeit noch nüchtern war. Ich ging mit meinem nächsten Liebhaber sogar einmal zu dem Stammtisch. Oskar war sehr höflich.

SZ: Wie haben ihnen Grafs Romane gefallen?

Hoffman: Die habe ich erst gelesen, als ich ihn kennen lernte. "Das Leben meiner Mutter" war mir zu langweilig und zu deprimierend. Aber "Wir sind Gefangene" hat mich schon beeindruckt. Und ich glaube durchaus, dass er Genie besaß. Aber er wollte auch entsprechend behandelt werden.

SZ: Gab es einen Anlass, der Ihr Verhältnis beendet hat?

Hoffman: Ja. Er hat damals Artikel über sich selbst geschrieben und wollte, dass ich sie unter meinem Namen an amerikanische Zeitungen und Magazine schicke. Das habe ich gemacht - und die wurden gedruckt. Als mir jemand einen lächerlichen Honorarscheck über sechs und sieben Dollar schickte, hat Oskar so getan, als würde ich ihm Geld vorenthalten. Er wurde richtig bösartig.

SZ: Und was ist geblieben?

Hoffman: In seinem letzten Roman "Flucht ins Mittelmäßige", den er 1959 veröffentlicht hat, hat die Hauptfigur, der in der Emigration lebende Schriftsteller Martin Ling, eine Geliebte namens "Lisawetha" mit meiner Statur. Das Buch hat er mir noch handschriftlich "in alter Anhänglichkeit" gewidmet. Wichtiger ist mir aber, dass Oskar ein ausgezeichneter Koch war - fast ebenso gut, wie ich Feinbäckerin bin. Ich habe von ihm gelernt, Kalbshaxe zuzubereiten. Manchmal, wenn ich Besuch habe, kommt die bei mir á la Graf noch auf den Tisch.

Aus Anlass des 114. Geburtstags von Oskar Maria Graf tritt Konstantin Wecker am 22. Juli um 20.30 in der Großen Aula der Universität München auf. Wecker hat in seinen Konzerten den Dichter immer erwähnt - Graf bleibe für jeden Vertreter des "anderen" Bayern die Orientierung gegen Anpassung und Denkträgheit. Sich in München "wieder dahoam" zu fühlen, wie Wecker das tue, blieb Graf ein Sehnsuchtsziel. Warum diese Sehnsucht unerfüllbar blieb, davon handeln die Texte, die Wecker vorlesen und zu denen er seine Lieder singen wird.

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