Das war die BRD (1):Der Aufkleber

Warum fiel es so schwer, den Sinn des Aufklebers zu verstehen

Georg Diez

(SZ vom 27.11.2000) - Es war an einem Samstagnachmittag, als ich lernte, dass auch die Freiheit dieser Demokratie ihre Grenzen hatte. Lag es tatsächlich nur an dem kanaldeckelgroßen Aufkleber mit der grinsenden roten Anti-Atomkraft-Sonne, dass jemand, zum dritten oder vierten Mal schon, die Antenne an unserem rostigen gelben VW-Bus abgeknickt hatte? Vielleicht, dachte ich damals, war es einer jener Frührentner, die immer gegen sechs Uhr morgens mit einem Dackel durch unser Neubauviertel zogen, im Herzen noch den letzten Krieg und im Kopf die fahle Gegenwart - vielleicht war es auch einer der Türkenjungen, vor denen ich schon auf dem Fußballplatz immer Angst hatte. So etwas hätte ich aber damals nie gedacht, schließlich war ich in der BRD groß geworden. Und da konnte man sich seine Feinde nicht einfach aussuchen.

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Dass sie diesen Materialismus zu einem Existenzgrund machte, war das Zeitgemäße an der BRD. Sie war ein Land wie ein Abziehbild, glänzend, lustig und flach.

Eigentlich, und das war ja eine Art Auftrag der Deutschen nach dem Krieg, durfte dieses Land keine Feinde mehr haben. Da aber, so scheint es, kein Mensch ohne Feindbild leben kann, hatten sich die Deutschen etwas besonders Verqueres ausgedacht, um dies Feindverbot zu umgehen: Der Feind meines Feindes ist mein Freund - auf dieser Grundlage existierte ein Land, das gelähmt schien von einer Handlungsstarre, die bequem war und konsensfähig und ideologisch abgesichert. Ein Land, das vergessen wollte, wie verbrecherisch seine Vergangenheit war, und das diese Vergangenheit zugleich brauchte, um in der neuen Zeit seinen Platz zu finden. Ein Land, das moderner war, als es sich eingestehen wollte, und gerade deshalb sein neues Gesicht um so angestrengter verleugnete. Ein Land, das vor sich selbst davon rannte, ohne zu wissen, wohin. Ein Land, dessen Gestalt ein Politikum war und so hieß, wie eigentlich kein Land heißen konnte.

Die "BRD". Oder BR Deutschland. Oder Westdeutschland. Oder Schweinestaat. Oder Westbindung. Oder Kniefall. Oder Bundesliga. Oder Atomkraftneindanke. Oder Bohnenkaffee. Oder Capri-Sonne. Oder Nivea-Creme. Deutschland jedenfalls war ein Kampfbegriff, und die Abkürzung BRD stand für ein Land, das ganz in seinen Widersprüchen verfangen war. Ein verwirrtes Land, das auf Angst gebaut war und auch auf Optimismus und das sich im Strudel seiner widersinnigen Gefühle an den paar Dingen festhielt, die sicher waren und greifbar und die man kaufen konnte. Ein materialistisches Land, das sich im besten Sinne des Wortes über die verhängnisvolle Sphäre des Idealismus und all seiner Sonderwege erhoben hatte. Ein Land wie ein Warenkorb.

Dass sie diesen Materialismus zu einem Existenzgrund machte, war das Zeitgemäße an der BRD. Sie war ein Land wie ein Abziehbild, glänzend, lustig und flach. Eine bunte Behauptung. Und wie bei einem Aufkleber hatte man die andere Seite, das Papier, auf dem dieser Aufkleber gehaftet hatte, einfach weggeworfen, liegen gelassen, vergessen.

Mehr als zehn Jahre ist es her, dass sich das letzte Politbüro dem Gang der Geschichte ergeben hat - es waren Jahre, in denen viel von dem die Rede war, wie das Leben in der DDR wirklich war, was von diesem Leben geblieben und was untergegangen ist. Jahre, in denen es darum ging, einem irgendwie gearteten neuen Selbstgefühl Ausdruck zu geben - und wie so oft war zuerst die Idee da, nach deren Muster dann die dazu passende Wirklichkeit gesucht wurde. Neue Symbole sollten her, die irgendwie auch die alten waren, nur größer, schöner, besser. Die Neue Wache in Berlin mit der aufgeblasenen Kollwitz-Pietà ist so ein Beispiel, wo man an die ungefähre Vorstellung einer Vergangenheit anknüpfte und damit die ungemütliche Zwischenzeit übersprang, die die BRD in dieser Interpretation immer geblieben war. Aber wie das so ist mit solchen Jahren in der historischen Wandelhalle: gerade in diesen transitorischen Zeiten entsteht mehr, als man in dem jeweiligen Moment erkennt. Und gerade weil vieles davon verschwunden ist, gerade weil das Zwischenland BRD mit dem Ende der DDR untergegangen ist, bleibt das widersprüchliche Fazit: Wie wir damals waren, sind wir noch heute.

Ein Feind, ein guter Feind

Die Autobiographie ist der Ort, an dem sich diese BRD finden lässt. In der Erinnerung an die eigene Jugend kristallisiert sich etwas heraus, das als Verhältnis zu diesem Land konstitutiv bleibt. Die Autobiographie ist der Versuch, sich in einer Geschichte den Platz zu suchen, den man gerne hätte. Sie ist eine lässliche Lüge, wie sie auch in jedem Satz steckt, der mit dem Wort "ich" beginnt. Die Jahre der BRD waren solche Jahre: Jahre des Ichs. Das Ich des Fünfziger-Jahre-Existenzialismus, das Ich der Sechziger-Jahre-Studentenproteste, das Ich der Siebziger-Jahre-Therapiecouch, das Ich des Achtziger-Jahre-Hedonismus. Die BRD war die Zeit, als Deutschland lernte, "ich" zu sagen - und als man begann zu verstehen, was das bedeutet.

Die Frage, wie ein Land von sich erzählt, ist eng verknüpft mit der Frage, wie ein Einzelner von sich erzählt. Der Ort dieser Selbstfindung allerdings war immer schwer fest zu machen: Was ist zum Beispiel mit den Stoßstangen, Rückfenstern oder Heckflächen der Autos - ein Ort also, wo sich das Private mit dem Politischen auf eine Art und Weise verband, der den Rost am Kotflügel eines Renault 4 schon wieder zu einem ideologischen Statement katapultierte. Irgendwann in den siebziger Jahren fing man jedenfalls an, sich Aufkleber auf sein Auto zu kleben als die Protestform einer mobilen Gesellschaft, die noch lernen musste, dass politische Botschaften durchaus im Gewand kommerzieller Heilsversprechungen daher kommen konnten. Diese Aufkleber funktionierten wie der Entwurf einer möglichen Autobiographie - und hielten dabei die Option offen, sich relativ rückstandsfrei davon zu trennen.

Plötzlich waren Aufkleber überall. Plötzlich etwa war da in der Trambahn der Junge mit dem gelb-rot leuchtenden Aufkleber auf seinem schwarzen Aktenkoffer. "Steinzeit? Nein danke" stand dort - und ich war einigermaßen verwirrt. Es war die Zeit, als sich das bunte Einerlei an Scout-Schulranzen auffächerte und man sich langsam entscheiden musste, in welche Ecke man sich stellen wollte: Wollte man zu den langhaarigen Typen gehören, die mit Filzstiften Anarchy-Zeichen auf ihre grünen Bundeswehrtaschen malten? Wollte man die links-liberale Variante der Schultaschenkultur wählen, also eine jener braunen Ledermappen, die einen schon damals als jemanden auswiesen, der die eigene Langweile hinter gutem Geschmack zu verstecken versteht? Oder wollte man so werden wie jene Schrumpfform der mittleren Angestellten, die im Gymnasium mit Aktenkoffern auftauchten, in denen sie ihre Lineale verstauten und auch die Ideale, die sie nie gehabt hatten? Das waren so die ideologischen Alternativen in einer Zeit, als man damit begann, die Inhalte endgültig gegen Äußerlichkeiten einzutauschen. Was bin ich? Es war ein heiteres Biographienraten.

Mir hatte es jedenfalls das Hirn vernebelt. Was sollte dieser Aufkleber bedeuten? Dort, wo auf unserem Autoaufkleber die Solarstromsonne lachte, da glotzte jetzt blöd eine Art Neandertaler hervor. Sonst war alles gleich, die leicht gerundete Schrift, die rote Energieblase in der Mitte, nur das Gelb war vielleicht ein wenig dunkler. War das also, dachte ich, die weiter gedachte Form des Atomprotestes? Sollte das bedeuten, dass nach einem Atomunfall wir alle wieder in der Steinzeit anfangen müssten? Aber, und das war das wirklich Irritierende: Wenn dem so war, was machte dann der Aufkleber auf dem Aktenkoffer, diesem Symbol für die falsche Gesinnung?

Und schon war ich hineingerutscht in jenen Strudel, der dieses Land erfasst zu haben schien, das nicht wusste, was es wollte, sondern nur, was es nicht wollte. Ein Land, das zwischen zwei Extremen hin und her gerissen wurde und die Bipolarität als Entschuldigung für die eigene Unentschiedenheit benutzte. Ein Land, das zwischen Zweifel und Selbstvergessenheit schwankte. Ein Land, das auf ein Fundament von Angst gebaut war. Warum fiel es mir so schwer, den Sinn des Aufklebers zu verstehen? Der Feind meines Feindes ist mein Freund? Natürlich war diese Aufkleberaktion damals gesponsort von der Firma Siemens.

Genau das war das Dilemma jener Jahre: Dass es schwer war, die Dinge einfach so zu sehen, wie sie waren. Hinter der glatten Formensprache jener Jahre verbargen sich alte, böse Sätze und neue, bunte Konflikte. Es war eine wohlige Zeit, keine Frage, aber doch eine Zeit, die sich darauf verlassen musste, dass keiner ihr Agreement störte. Und gerade darum war es schließlich so erlösend, als einer wie Rainald Goetz daher kam und einfach den Vorhang zerriss. Goetz, der Sänger dieser BRD-Jahre, hatte den Ausweg aus dem Dilemma formuliert: "Der Feind meiner Feinde", schrieb er, "ist auch mein Feind."

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