Das Tagebuch der Anne Frank:"Nah an der Welt unserer Kinder"

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Hans Steinbichler verfolgt mit seiner Adaption des Stoffs den Ehrgeiz, das jüdische Mädchen vom Mythos zu befreien - und hat sich damit schon Ärger eingehandelt

Interview von Josef Grübl

Vor zwei Wochen feierte "Das Tagebuch der Anne Frank" von Hans Steinbichler Premiere auf der Berlinale, am Donnerstag startet der Film in den Kinos. In der Lobby eines Berliner Luxushotels erklärt der bayerische Regisseur, wieso er den ersten deutschen Spielfilm über Anne Frank inszenierte und warum es schon vorher Ärger gab.

SZ: Das Tagebuch wurde zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht, seitdem gab es Spielfilme, Serien, Broadwayshows und sogar eine Oper über sie. Wird Anne Frank von jeder Generation neu entdeckt?

Hans Steinbichler: Ja, ich glaube schon. Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht, wie man ihre Geschichte heute erzählen kann, und bin dabei auf folgende Formel gekommen: Anne Frank ist eine 15-Jährige minus Smartphone. Wenn man so will, ist das Tagebuch ihr Smartphone. Niemand hat sie bisher als Teenager beschrieben, so ganz ohne Gloriole. In unserem Film hat man anfangs Schwierigkeiten, sich mit ihr anzufreunden, sie geht einem auch gehörig auf die Nerven. Das finde ich wichtig, denn Anne Frank war keine Göttin und keine strahlende Heldin, sondern ein ganz normales Mädchen mit ihren Konflikten. Das habe ich bislang noch nicht gesehen, es wurde immer sehr am Mythos gearbeitet.

Was macht denn den Mythos Anne Frank aus?

Es sind zwei Faktoren: Auf der einen Seite gibt es viele Stellen im Tagebuch, die so verfasst sind, dass man sie kaum vom eigenen Empfinden trennen kann. Man amalgamiert total mit dieser Person. Auf der anderen Seite steht der Tod. Man liest diese helle Beschreibung, die so lebendig ist, als könnte sie heute geschrieben sein. Gleichzeitig weiß man, dass ihr Leben ausgelöscht wurde. Das scheint mir den Mythos auszumachen.

Die Bewohner des Hinterhauses stürzen sich auf Erdbeeren, auch Anne (Lea van Acken, 4. v. r.) und ihr Zimmergenosse Albert Dussel (Arthur Klemt, r.). (Foto: Universal)

Wenn sie überlebt hätte, hätte sich also niemand für ihr Tagebuch interessiert?

Es ist nur ein Gedankenspiel, aber hätte Anne Frank dieses Tagebuch geschrieben und überlebt - was natürlich absolut wünschenswert gewesen wäre - und hätte es irgendwann veröffentlicht, dann wären es sehr kluge Aufzeichnungen einer mit Sicherheit interessanten Frau gewesen. Den Mythos macht aber das tote Mädchen aus.

Anne Franks Geschichte wurde immer wieder von Rechtsradikalen abgestritten. Gibt es die Anne-Frank-Leugner auch noch heute?

Die Anne-Frank-Leugnung ist das massivste und perfideste Problem, mit dem sich die Figur zu konfrontieren hat. Als der Trailer unseres Films veröffentlicht wurde, war einer der ersten Kommentare bei YouTube: "Schaut euch mal den Kugelschreiber an, mit dem das geschrieben wurde . . ." Es gibt immer wieder Verschwörungstheorien, wonach die Aufzeichnungen nicht echt sein können. Diese Leugnung ist erschreckend, man kann das heute aber offensichtlich einfach so schreiben.

Was sagt die Art, wie Sie Anne Frank im Film zeigen, über unsere Zeit aus?

Eine Berechtigung für diesen Film ist, dass man durch die Art der Beschreibung ihres Erwachsenwerdens nah an die Empfindungswelt unserer Kinder heranrutscht. Die Leuchtkraft der Figur Anne Frank soll auch Leute bewegen, die völlig unpolitisch sind. Ich stelle mir da beispielsweise eine junge Muslimin vor, die noch nie etwas von Anne Frank gehört hat und mit ihrer Klasse ins Kino geht. Sie soll mit sich ausmachen, ob sie dieser Geschichte eines jüdischen Mädchens eine Moral abgewinnen kann.

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Heute sitzen in den Schulen Kinder aus verschiedensten Regionen und Religionen. Hat das für Sie als Filmemacher einen Effekt?

Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ich ging in Prien am Chiemsee zur Schule; dort gab es gerade einmal drei Leute, die von woanders herkamen. Heute sitzen dort Schüler, die völlig anders sozialisiert sind. Da kann importierter Antisemitismus zur ganz normalen Grundausstattung gehören. Das meine ich jetzt gar nicht bösartig oder ideologisch, aber es interessiert mich sehr, was passiert, wenn man sie mit so einem Thema konfrontiert.

Vor zwei Jahren haben Sie einen Film über Kurt Landauer gemacht, jetzt über Anne Frank. Sehen Sie sich als Experten für jüdische Biografien?

Nein, aber ich habe mich tatsächlich gefragt, warum der Anne-Frank-Fonds will, dass diese Geschichte aus Deutschland heraus erzählt wird. Mein Gedanke war, darin eine pädagogische Aufgabe zu sehen: Den "Tätern" das Tagebuch in die Hände zu geben und zu sehen, wie sie damit umgehen. Ich bin ein bayerischer Christ und komme aus einer durchschnittlichen Familie. Und mit Durchschnitt meine ich auch, wie sich meine Großeltern im "Dritten Reich" bewegt haben: Die waren nicht im Widerstand, sie waren einfach mit dabei. Bei der Arbeit an Anne Frank habe ich die ganze Zeit Schuld gefühlt, ohne dieses Empfinden für Schuld hätte ich das nicht angehen können. Obwohl das ja völlig irrational ist.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit dem Anne-Frank-Fonds, der die Rechte am Tagebuch verwaltet?

Das Ganze hatte zwei Seiten. Zum einen hat man mir einen großen Freiraum in der Interpretation von Anne Frank gelassen. Ich hatte sogar das Gefühl, dass sie starkes Interesse daran hatten, wie wir die Geschichte interpretieren. Auf der anderen Seite gab es manchmal Diskussionen, die ich persönlich als total kleinteilig empfand, die seitens des Fonds aber trotzdem ihre Berechtigung hatten. Es gab also eine große Freiheit, ab und zu rannte ich aber gegen eine Mauer.

Hans Steinbichler gilt seit "Hierankl" (2003) als Erneuerer des Heimatfilms. Er wurde 1969 in Solothurn geboren, wuchs aber am Chiemsee auf. (Foto: Imago/Sven Simon)

Vor kurzem wurde bekannt, dass Ihnen ein Film über Leni Riefenstahl angeboten wurde. Daraufhin tobte Yves Kugelmann vom Anne-Frank-Fonds, Anne sei kein "Teppichvorleger für die Nazi-Regisseurin". Was ist dran an der Geschichte?

Ja, es gibt ein Angebot von der Ufa für den Riefenstahl-Film - aber mehr eben nicht. Daher finde ich es interessant, dass gleich von einer Zerrüttung geschrieben wurde. Das ist nicht der Fall: Ich bin mit Yves Kugelmann ständig im Gespräch und habe ihm gesagt, dass dieses Projekt momentan nicht aktuell ist.

Aber das Riefenstahl-Projekt geistert doch schon seit Jahren durch die Branche, mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle.

Richtig, es ist auch ihr Projekt. Sie plant und entwickelt es gemeinsam mit Nico Hofmann. Das ist der Stand der Dinge, mehr kann ich dazu nicht sagen.

Die Artikel klangen trotzdem recht dramatisch. Unter anderem hieß es darin, Kugelmann fände Ihren Film "schlecht".

Das fand ich auch sehr interessant, schließlich hat er den Film von vorne bis hinten begleitet. Es gab keine Fassung, die er nicht gesehen hätte. Ich habe ihn nach der Veröffentlichung des Welt-Artikels von Henryk M. Broder gefragt, warum da steht, dass unser Film schlecht sei. Er hat mir aber versichert, dass er das nicht gesagt habe. Mit Broder habe ich nicht gesprochen, daher ist es mir noch ein Rätsel, wie so etwas veröffentlicht werden konnte.

Können Sie den Ärger nachvollziehen?

Diese Bedenken sind rein hypothetisch. Aber wenn jemand auf mich mit Leni Riefenstahl zukommt, bin ich als Filmemacher natürlich erst einmal interessiert. Im Moment gibt es aber keine Grundlage - und eine Grundlage wäre für mich beispielsweise ein Vertrag.

Wie sehen Sie die Publikumschancen für Ihren Film? In letzter Zeit hatte es zeitgeschichtliche Stoffe wie zum Beispiel "Elser" eher schwer an der Kinokasse.

Das stimmt, ich bin mir aber sicher, dass unser Film ein großes Publikum ansprechen wird. Es wird einen Konsens geben, sich diesen Film gemeinsam mit den Kindern anzuschauen.

Das Tagebuch der Anne Frank , Regie: Hans Steinbichler, startet am Donnerstag in vielen Kinos

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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