Das Leben der Anderen:Der Telefonbetrüger

Spätestens seit der Fusion von YouTube und Google ist die Unterhaltungskultur um ein Genre reicher: den kleinen schmutzigen Internetfilm. Heute: "PhoneCam Magic"

Christian Kortmann

Viele Künstler - ob Regisseure, Musiker oder Komiker - drängen momentan mit kleinen schmutzigen Internetfilmen ins Netz. Doch um sich und sein Werk bekannter zu machen, genügt es ja nicht, einen Film bloß ins Internet hochzuladen: Er muss aus der Masse des Dargebotenen herausragen, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen. Der Illusionskünstler Marco Tempest hatte eine Idee für eine Filmreihe, die die Menschen fasziniert und zugleich die Bedingungen des Mediums Internet-Clip reflektiert.

Seit diesem Sommer zeigt Tempest kleine Zauberfilme bei YouTube. Die hier präsentierte erste Folge der Reihe, "The Umbrella", war ein Publikumserfolg und besitzt schon alle Elemente, die Tempests Clips so gelungen machen.

Man sieht eine Szene auf einer belebten New Yorker Straßenkreuzung, wie man sie aus unzähligen Spiel- und Dokumentarfilmen kennt: Verkehrslärm, Taxis, Feuerleitern an den Häuserfassaden. Marco Tempest stellt sich vor und erklärt die Grundregeln seiner filmischen Trugbilder. Er betont, dass er nur seine Mobiltelefon-Kamera benutzt; dass der Film weder geschnitten noch digital bearbeitet sei: "Alles, was Ihr seht, ist das, was hier passiert. Everything you see is exactly the way my cell phone camera saw it!"

Dann bittet er eine Passantin um ihre Mithilfe, die scheinbar zufällig einen roten Regenschirm dabei hat. Tempest gibt die Kamera aus der Hand, lässt sich von der Passantin filmen und tanzt mit dem Schirm umher. Und plötzlich verkleinert sich der Schirm vor unseren Augen auf Miniaturformat!

Es handelt sich wohlgemerkt um eine einzige, ungeschnittene Szene. Man muss den Clip mehrmals sehen, um zu verstehen, was da passiert. Und wenn man's begriffen hat, sagt einem der Verstand, dass es eigentlich unmöglich ist. Aber Tempest hat uns doch versprochen, by fair means, also ohne digitale Hilfsmittel zu arbeiten... Vertrauen wir seiner Versicherung oder doch besser unseren Augen, die uns sagen, dass da etwas nicht stimmen kann?

Tempest ist ein etablierter Illusionist und kein Anfänger, der auf billige Produktionsmethoden angewiesen wäre. Er könnte die Filme auch aufwändiger produzieren, setzt aber die mangelhafte Technik bewusst ein, weil er das Publikum im vertrauten Medium des Handyfilmchens überraschen will. Der Effekt, innerhalb der bekannten, pixelig-rauhen Wackelbilder solch eine hoch elaborierte Sinnestäuschung zu erleben, ist groß.

Bei David Copperfield, Tempests berühmtestem Standeskollegen, erschlägt die übermäßige Inszenierung ja längst jedes mögliche Erstaunen: Die Objekte, die er "verschwinden" ließ, wurden immer größer, aber der Verblüffungsfaktor stagnierte. Als er bei der chinesischen Mauer angekommen war, gähnte man und dachte, na gut, jetzt könnte er eigentlich auch sich selbst wegzaubern.

Marco Tempest reagiert auf Ermüdungserscheinungen seines Publikums ungleich klüger: Den anderen "PhoneCam Magic"-Film, den wir vorstellen, "Back on the Bridge", hat Tempest jüngst als Reaktion auf Kommentare im Netz gedreht. Zuschauer hatten sich beschwert, dass sein vorheriger Brücken-Trick zu leicht zu durchschauen gewesen sei. Solch forscher Vorwurf trifft einen Meisterillusionisten wie ein Fehdehandschuh ins Gesicht.

Deshalb stellt Tempest in "Back on the Bridge" die digitale Kluft zwischen sich und den Möchtegern-Durchblickern wieder her: Provozierend langsam und deutlich erklärt er seine Versuchsanordnung: "Ich stehe hier auf der Brooklyn Bridge, da drüben ist Manhattan und dort Brooklyn." Dann verschwindet er tatsächlich von der Brücke und befindet sich plötzlich am Brooklyner Ufer: Welch Demütigung für jeden Medienanalytiker mit Enthüllungs-Ambitionen!

Ist Tempests Brücken-Kunststück ohne digitale Bildbearbeitung möglich? Diese und andere Fragen bleiben offen, und die Zuschauer werden ihre eigene Telefonkamera in Zukunft nicht mehr als reine Realitätsabbildungsmaschine, sondern vielmehr als Manipulationsgerät betrachten.

Tempest wird viel Aufmerksamkeit zu teil, weil er Aufmerksamkeitsmechanismen thematisiert. Wie die berühmten Bilder von M.C. Escher im Medium der Zeichnung, zum Beispiel Wasser, das im Kreis bergauf fließt, veranstaltet Tempest einen wahnwitzigen Perspektivenzauber, der uns an die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit führt. Wir bewegen uns auf doppeltem Boden, unter dem ein metaphysischer Abgrund lauert.

Es ist dieser gänsehautauslösende Zweifel, der das Publikum bei Zaubertricks wider alle Vernunft stets in den Bann zieht: Tut der Magier vielleicht nur aus Selbstschutz so, als ob er nicht zaubern könne?

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