Das Jahr des Sports:Der kollektive Wahnsinn

Erst Fußball, dann Tour de France und nun Olympia - Sieben Gründe, warum der Fernsehsport das Sanatorium unserer Sehnsucht ist.

von Holger Liebs

Wir haben ja doch schon einiges erlebt zusammen dieses Jahr, nicht wahr? Sie, der Leser, und ich, der diese Zeilen schreibt. Denken Sie mal nach. Erst die Europameisterschaft. Sie waren doch auch dabei, als Scolari Figo auswechselte. Und dann der Zoom auf Figos Gesicht. Sie haben wie ich gesehen, dass er es nicht fassen konnte, als Portugal zurücklag, kurz vor dem Aus stand, wie man auf einmal in seine Seele schauen konnte: Er nimmt mich raus, mich, den Regisseur! Höchststrafe.

Das Jahr des Sports: Schon warm gemacht? - In wenigen Tagen beginnen die Sommerspiele 2004. Wieder wird die Nation vor dem Fernseher mitfiebern. Warum eigentlich?

Schon warm gemacht? - In wenigen Tagen beginnen die Sommerspiele 2004. Wieder wird die Nation vor dem Fernseher mitfiebern. Warum eigentlich?

(Foto: Foto: dpa)

Was haben wir, Sie und ich, da gebannt auf den Bildschirm geschaut, oder? Was für ein Drama, und was für ein Glückserlebnis, diese EM. Dass die Deutschen da schon lange ausgeschieden waren, wen hat das gekümmert.

Das Gesicht! Die Augenringe!

Es war eine große, bunte Party mit vielen jungen Leuten (Rooney, Ronaldo, Robben, auch Lahm, von mir aus) - und ein paar ältere waren halt auch da (Figo, Beckham, Zidane). Aber die waren dann eigentlich doch nicht so wichtig. Es hat Spaß gemacht.

Dann die Tour, Jan und der Unbesiegbare, Folge fünf (einmal, im Jahr 1999, konnte der melancholische Ulle nicht dabei sein). Seien Sie ehrlich, Sie haben doch auch, ganz im Stillen natürlich, gedacht: Warum geht Ulle nicht auch mal aus dem Sattel? Muss der immer im Sitzen da hochstampfen auf dem kleinsten Ritzel, das sieht so langsam aus. Und dann das Gesicht! Augenringe, groß wie Krater. Dagegen Armstrong, flink und behände wie ein junges Reh.

Jedenfalls war auch das: eine große, bunte Party (springende Teufel am Straßenrand! Der irre Voigt! Vorbeiziehende Schlösser und Kirchen, und immer wussten die Reporter genau, was in diesen Gemäuern für Weine gereicht werden! Gut, das Letzte war jetzt eher langweilig, eigentlich sogar zum Einschlafen öde. Macht aber nichts. Dieses eher meditative Moment gehört nun einmal zum Gemeinschaftserlebnis Tour de France wie "Quäl" dich, du Sau!" und der Altig Rudi.

Und Ulle? Dem haben wir verziehen. Ist ja auch nur menschlich, Schokolade im Winter, wer kennt das nicht? Und der Armstrong, na, da weiß man doch, wie der seine Rennen gewinnt, oder etwa nicht?

Wir wussten ja auch immer ganz genau, was wir nicht wollten. Bei der EM zum Beispiel Michael Steinbrecher und diesen schwäbischen Schiedsrichterdarsteller. Und bei der Tour, da gab es diese Frau, die die "Strecken-Atmo" einfangen sollte und die immer atemlos auf Sendung ging, meist von einer verwackelten Kamera geschickt aus dem Bild gerückt, wenn die Spitze des Feldes gerade vorbeigefahren war. Aber bei jeder Party gibt's halt auch ein paar Gäste, die man eher duldet als liebt. Das tut der Hochstimmung im Ganzen keinen Abbruch.

Selbstgeißelung mit "Die Alm"

Was kam dann? Seien Sie ehrlich: Es war die große Leere. Der so genannte Alltag eben. Soziologen sprachen vom sogar wissenschaftlich erforschten "Sozialen Kater". Es hat halt jeder einfach weitergefrickelt wie vorher. Manchmal, da kam aus den Tiefen des Gedächtnisspeichers so eine Ahnung hoch, wie: Das war doch wirklich toll.

Schade, dass es vorbei ist. Und dann hat man sich halt wirklich wieder in den Reformstau eingefügt, ab und an auch wieder den Fernseher eingeschaltet, "Die Alm" vielleicht, weil es sonst nichts zu schauen gab und, geben wir es ruhig zu, weil man sich auch ein wenig selbst quälen wollte, bestrafen gewissermaßen für die vorangegangenen Spaß-Exzesse.

Und wir dachten, im Büßergewand erschlafft, sehnsüchtig an Herbert Watterott, wie er, um, sagen wir mal, 14.38 Uhr, mitten im Tour-Nirwana emotionslos strampelnder Hauptfelder, beim Anblick eines Schlosses vom Genuss eines im Stil der Region zubereiteten Coq au vin zu schwärmen begann . . .

Der kollektive Wahnsinn

Geduld! Noch eine knappe Woche, dann ist es wieder so weit. Olympia. Die Reporter werden wieder atemlos sein, die Kameras ganz nah dran und die Athleten wie immer athletisch. Nicht zu vergessen: Bundesliga. Magath vs. Schaaf mit jeweiligem Kader plus 16 Nebendarstellern, von heute an, 15.30 Uhr, jedes Wochenende. Mittenmang: wir. Der Fernbedienungspulk.

Das Jahr des Sports: Männer, die man nicht mehr vorstellen muss. 2006 in Deutschland, aber das wissen sie ja.

Männer, die man nicht mehr vorstellen muss. 2006 in Deutschland, aber das wissen sie ja.

(Foto: Foto:)

Der Rest des Jahres ist vorstrukturiert. Und man kann sich eigentlich nur fragen: Was ist es, dass uns zusammenschweißt, die Gemeinschaft der Untätigen und Couch-Potatoes beim großen Wettkampf? Da hat man ja mitunter schon mal virtuelle Nachbarn, denen man nicht mal im Mondenschein von Shangri-La begegnen möchte.

Für die rituelle Teilhabe am Gemeinschaftserlebnis, an der kollektiven Party gibt es gute Gründe. Hier seien mal beispielhaft sieben aufgeführt: ein kleiner Katechismus des Tele-Happenings. Oder: Warum die Gemeinschaft, und sei sie noch so flüchtig, unscharf und vielgestaltig, immer ein Glücksversprechen ist.

Uschi Obermaiers Liebesliegewiese

1. muss man erstmal klarstellen: Zur verschworenen Gemeinschaft, zur Fangemeinde im engeren Sinne gehören wir Wohnzimmerfanatiker nicht. Oder sind Sie am Tourmalet gewesen, oder im Estádiu da Luz? Haben Sie Ihren Jahresurlaub für eine schäbige Kemenate in Lissabon oder für Wohnmobilkaffee in alpiner Hanglage drangegeben? Eben.

Wobei man im Stadion aber auch nicht den Kamerazoom auf Figos Fassungslosigkeit mitbekommt, und an der Pyrenäenserpentine allenfalls für Sekundenbruchteile die Nahsicht auf die roten Augenringe vom schlaffen Ulle.

Im medialen Echtzeitpanoptikum entsteht, durch eine ausgeklügelte Schnittfolge, die antike Einheit von Ort, Zeit und Handlung noch einmal neu, und das ganze voyeuristische Melodrama des heroischen Einzelnen und seiner Kämpfe kann beginnen. Und wir alle sind dann doch wieder irgendwie dabei, werden zum Teil eines gebannten Kollektivs.

2. grenzen wir uns durch diese Teilhabe am sinnstiftenden Drama des Sports vom Rest der Gesellschaft ab. Wir gründen eine Kommune. Drinnen versteht sich alles von selbst. Mann, dieser Wayne Rooney spielt wie ein junger Gott! Hast du Tschechien gegen die Niederlande gesehen? Der arme René Haselbacher! Draußen sind nur die, die noch nicht erleuchtet sind.

Es ist fast wie einst auf dem Monte Verità oder bei Rainer Langhans" und Uschi Obermaiers Liebesliegewiese selig: Entweder, du bist einer von uns, oder du bist einer von den anderen. Merke: In Zeiten der Tour oder der Fußballturniere kann man mit folgendem Statement nur ganz schlecht Staat machen: "Was macht das für einen Sinn, wenn 22 Mann hinter einem Ball her rennen?"

Die Gesellschaft ist ein Gletscher

Oder: "Das ist mir zu nationalistisch." Oder: "Die sind doch alle gedopt". Diesen Ignoranten ist nur durch die Initiation per Fernbedienung zu helfen. Die Gesellschaft ist ein Gletscher. Nur als einzelner, Haltung bewahrend und kühl bis unter die Stirn, kann man in ihr überleben. Die Gemeinschaft ist ein Wärmepol. Als glühender Verehrer darf man sich in ihr wie in einer Ersatzfamilie geborgen fühlen - und ein wenig mild lächelnd auf all die bewusstlos Dahinvegetierenden herabblicken, denen das Licht noch nicht zuteil geworden ist.

3. steht geschrieben, dass der Mensch nicht gern alleine sei. Was nützt das schönste Glücksgefühl, wenn man es nicht teilen kann? Selbst der feurigste Eremit braucht irgendwann wieder ein Publikum, um von seinem Damaskuserlebnis berichten zu können. Umgekehrt ist man auch als asketischer Weltenflüchtling nicht alleine, wenn in der abgeschiedenen Klause ein TV-Empfangsgerät steht und man sich einig weiß mit all den anderen Kurzpassspiel-Initianden und Wechseltritt-Adepten.

4. gehört zu jeder aufrechten Kommune auch eine Art Guru. In diesem Fall der charismatische Held, der Athlet. Er ist das Kraftzentrum, um das sich mittlerweile so etwas wie eine ästhetische Religion gebildet hat, der Fankult mit all seinen Merkmalen besinnungs- und bedingunsloser Verehrung.

Jedes schweißnasse Trikot ein profanisiertes Leichentuch Christi

Jedes schweißnasse Trikot ein profanisiertes Leichentuch Christi, eine vera icon, also ein wahres Abbild seiner Erscheinung, oder doch zumindest eine Reliquie des Sports . . . der charismatische Held siegt, scheitert und leidet für uns alle. Er ist Anlass und Ziel aller rituellen Tänze (¸¸Toooor!"), verbalen Selbstentblößungen (¸¸Versager!") und meditativen Versenkungen, wie sie in jeder ordentlichen Sekte vorkommen.

5. braucht der Charismatiker umgekehrt auch Jünger, die ihm bedingungslos folgen. Das funktioniert natürlich nur so lange, wie er seine gleichsam überirdische Ausstrahlung verströmt. Wir ahnten ja immer schon, dass dieser Beckham, der die Unterwäsche seiner Frau aufträgt und sich seltsame Frisuren schneiden lässt, eine Null ist. Nur schlägt er eben auch scharfe Flanken und Freistöße wie kein anderer auf der Welt.

Aber dann kam dieser Moment am Abend des 24. Juni, als König David im Stadion des Lichts seinen Fuß ins mürbe Geläuf hieb anstatt gegen den Ball, und die Gefolgschaft drehte ihm den Rücken zu (¸¸Elfer-Depp Beckham", Bild). Die Lossagung vom einstigen Guru ist zwar wie jeder Abschied ein scharfes Schwert (¸¸Litanei des Schmerzes", The Independent), es bleibt eine ungeheure Leere und Sinnlosigkeit, aber da wartet ja zum Glück immer ein anderer, an die Stelle des gefallenen Gottes zu treten.

Die "Big-Brother"-Sekte

Fortan verehrte man einen viel jüngeren Mann aus Croxteth, Liverpool, der zwar ein wenig ungeschlacht wirkt, aber eine reine Seele besitzt: Wayne Rooney. Charisma: im TV-Sport alles eine Frage des Tele-Votings, wie im richtigen Container-Fernsehen.

So etwa bei der "Big-Brother"-Sekte, wo es in höchst demokratischer Weise das Publikum ist, welche als unsichtbare Kontrollinstanz auftritt: Es setzt einen rituellen Verbannungsritus in Kraft, der nach den Gesetzen einer ständig erneuerten Beliebtheitsskala abläuft. Übrigens reicht es zur Erlangung des Heldenstatus" nicht aus, einfach nur nett zu sein (diese Botschaft geht hinaus ins badische Nerdingen).

6. ist so ein Sportereignis immer auch eine Schöpfungsphantasie, eine fein säuberlich geordnete Welt im Kleinen, die nach klaren Gesetzen aufgebaut ist. Übertretungen - Doping, Foul, Trikotausziehen - werden sofort geahndet, da gibt es meist keine Diskussionen. Das ist immer attraktiv, funktioniert aber nur, indem diese kleine Welt sich von der großen so massiv abschottet, wie es nur geht.

Sei es durch ihre Verlagerung in eine unzugängliche, abweisende Gegend, gerne auch ins Bergig-Wüstenartige hinein (die Alpen und die Pyrenäen). Eben dorthin, wo wir 50 000 Eingeweihten mal ganz unter uns sind. Oder sei es durch eine Architektur wie die Arena, die sich von der Stadt abgrenzt und alle Blicke nach innen, auf das charismatische Kraftzentrum, ausrichtet.

Brot und Spiele und sich mal richtig gehen lassen

Am Ende können dann aber doch wir alle an dieser Welt teilhaben und ihren Gesetzen Folge leisten, den Übertragungskanälen sei Dank. Weshalb so eine Gemeinschaft im Kleinen, die ja im Weltgeschehen drinsteckt wie ein Parasit, immer auch eine Art gesellschaftlicher Versuchsanordnung ist, ein soziales Experiment, in dem man - "Brot und Spiele" - sich mal so richtig gehen lassen kann. Es ist eine durch und durch legitime Form des Rausches, der für den Alltag regulierend wirkt, freilich auch süchtig machen kann.

Und 7. sucht man letzten Endes immer nach der Autobahn zum Glück, nach einer stromschlagartigen Erleuchtung oder plötzlichen Erkenntnis. Sind wir nicht alle ein bisschen Hippie, wollen uniform als Kommune durchs Leben ziehen, Luftballons steigen lassen, der Sonne hinterherwandern? Freie Liebe und so? Shangri-La? Die Eröffnungsfeiern der großen Sportereignisse sind ja immer auch ein bisschen wie André Heller meets Good Vibrations. Alles so schön bunt hier. Willste mal ziehen?

Es ist eine Form der Massentherapie, der Initiation in die große Kommune Welt. Der TV-Sport ist so gesehen auch: das Sanatorium unserer Sehnsüchte. Von der kommenden Woche an wieder beim Sender Ihres Vertrauens. Oder auch, wenn man an Michael Steinbrecher denkt: Ihres Grauens. Aber egal. Es sind ja alle eingeladen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: