Das Experiment:Carte blanche zum Rumspinnen

Das Experiment: DJ und Komponist: Für Benedikt Brachtel sind die Grenzen zwischen U- und E-Musik fließend.

DJ und Komponist: Für Benedikt Brachtel sind die Grenzen zwischen U- und E-Musik fließend.

(Foto: Gabriel Wolf)

Der Komponist Benedikt Brachtel hinterfragt mit seinem Künstlerkollektiv "Agora" die Strukturen von Opern und nimmt sich Ludwig van Beethovens Oper "Fidelio" als exemplarisches Werk vor.

Von Barbara Doll

"Agora", sagt Benedikt Brachtel, "das ist für uns wie im antiken Griechenland der Ort des Austauschs, der Ort, an dem Dinge verhandelt werden". Agora, so heißt das Musiktheaterkollektiv, das der gebürtige Münchner 2015 gemeinsam mit vier weiteren Künstlern gegründet hat: Anna Brunnlechner, Benjamin David, Claudia Irro und Valentin Köhler. Alle fünf kennen das Geschäft in Theaterinstitutionen ebenso wie in der freien Szene, und sie bringen ganz unterschiedliche Expertisen mit: Regie, Dramaturgie, Bühnenbild, Kostümbild, Sounddesign, Komposition, musikalische Leitung - alles, was man für eine Musiktheaterproduktion braucht.

In Basel und München haben sie sich kennengelernt und festgestellt, dass sie "in genau diesem Team längerfristig und regelmäßig zusammenarbeiten wollen", erklärt Benedikt Brachtel. Als Konzeptionsteam würden sie sehr gut funktionieren, sagt der Komponist, DJ und Dirigent, und sie hätten ähnliche Fragestellungen rund um das Repertoire und die Form des zeitgenössischen Musiktheaters. "Wir wollen nicht allen zeigen, wie's besser geht", sagt Brachtel, "das wäre sehr anmaßend", aber zumindest "wollen wir die einzelnen Ebenen der Oper auf deren Aktualität hin überprüfen und andere Vorschläge liefern".

Genau das ist der Auftrag im Rahmen ihrer einjährigen Residenz an der Bayerischen Staatsoper: Das Musiktheaterkollektiv Agora soll das Phänomen Oper auf Institutionalisierung, Rezeptionsweisen, Narrativität und Aktualität hin untersuchen. Die Staatsoper kündigte sie als "Parasiten" im eigenen Haus an; für Benedikt Brachtel "eine Art Carte blanche zum Rumspinnen". An drei Abenden haben sie unter dem Titel "Prozessor I-III" Beethovens Oper "Fidelio" als exemplarisches Werk auf die verschiedenen Aspekte hin untersucht, bei den Opernfestspielen folgt nun als Abschluss-Experiment das Stück "Catarsi". "Prozessor I-III" war eine formale, recherchehafte Untersuchung, die aber - ganz im Sinne der Oper - auch emotional und theatral erlebbar gemacht wurde.

An einem Abend installierten sie auf der Bühne des Nationaltheaters zwölf kleine Kameras, etwa im Souffleurkasten, und übertrugen die Aufführung live in ein Nebenzimmer. Jeder Zuschauer dort bekam ein Tablet und konnte verschiedene Kanäle auswählen - plötzlich war man ganz nah am Sänger dran, stand aber eigentlich weit weg. Zudem hackte sich das Kollektiv in die Vorstellung ein, überlagerte Perspektiven, schaltete den Musikkanal zeitweise ab. "So wurde die direkte Macht, die von der Bühne auf die Zuschauer übertragen wird, unterbrochen", sagt Benedikt Brachtel.

Das Boxensystem 4DSound ist für Benedikt Brachtel genauso ein Klangkörper wie ein Orchester

Agora geht es darum, "ein bisschen frische Luft in die Konserve" zu lassen. Die gängigen Stücke im Repertoire der meisten Opernhäuser seien "unglaublich wichtige Werke", doch den Umgang mit den Werken gelte es zu überprüfen. Auch in Anlehnung an das Spielzeit-Motto der Staatsoper "Was folgt" stellen sie sich Fragen wie: "Was folgt, wenn in 50 Jahren kein Geld mehr da ist, so eine Institution zu erhalten? Was folgt, wenn die Leute nicht mehr kommen, weil sie die Musik nicht mehr wertschätzen? Wie sieht die Zukunft der Oper aus?" Es sei klar, dass sich solche Fragen nicht beantworten lassen, sagt Brachtel, aber: "Man kann überlegen, welchen Stellenwert zeitgenössische Medien und Ästhetiken in diesem Betrieb haben."

Man könne zum Beispiel mit dem Boxensystem 4DSound experimentieren, das für Brachtel genauso ein Klangkörper ist wie ein Orchester. Man könne den Begriff der Werktreue - "in der Oper noch ein heiliges Kalb", wie Brachtel es ausdrückt -, hinterfragen und sich anschauen, wie man im Theater mit Shakespeare-Texten umgeht: Da werde schon längst umgeschrieben, geremixt, dekonstruiert. In dem Stück "Catarsi", das im Rahmen der Opernfestspiele im Postpalast inszeniert wird, setzen sich Brachtel und seine Kollegen erneut mit "Fidelio" auseinander. Leonore und Florestan leben in zwei Welten: Florestan ist gefangen in einer virtuellen Welt, Leonore versucht, aus der realen Welt zu ihm durchzudringen. Doch die Macht, die Florestan gefangen hält - eine künstliche Intelligenz, ein Algorithmus -, will von ihm die Essenz dessen, was den Menschen noch von der Maschine unterscheidet: seine Gefühle.

Die Inszenierung spielt stark mit der Architektur des Postpalasts und seiner riesigen Glaskuppel, der Raum wird bis zum Boden mit Gaze verhängt. Zu Beginn wird das Publikum mit einem Parcours an das Setting herangeführt. Ein 13-köpfiges Ensemble aus klassischen und elektronischen Musikern vereint Beethovens Klangwelt mit einer geräuschhaften, atmosphärischen Ebene, geschaffen vom 4D-Soundsystem mit 59 Boxen. Es soll ein Abend werden, "der auf allen Ebenen vereinnahmend sein soll, der nicht nur zum Denken, sondern auch zum Fühlen anregen soll", sagt Benedikt Brachtel. Also: Oper im besten Sinne, aber mit zeitgemäßen Mitteln.

Catarsi, Mi./Do., 28./29. Juni, Sa./So., 1./2. Juli, je 20.30 Uhr, Postpalast, Wredestraße 10

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