Nach den Anschlägen in Norwegen:Das Dilemma der Islamkritiker

Das Massaker von Norwegen enthüllt die gravierenden Irrtümer der Islamkritiker: Nicht etwa ein Muslim zog in den Krieg gegen den Westen - der Täter gehört vielmehr derselben Denkschule an wie sie selbst. Damit wird deutlich: Die wahren Gegner der Anti-Islam-Bewegung sind nicht die Muslime. Es sind die eigenen Mitbürger.

Stefan Weidner

Wäre der Anlass nicht so verstörend, man könnte es für eine Ironie der Geschichte halten, dass die Islamkritik über Nacht in dieselbe Rechtfertigungsnot katapultiert wurde, in die sie den Islam seit jeher zu bringen suchte. Nachdem sich der norwegische Massenmörder Anders Breivik so nachdrücklich auf die von ihr seit Jahren propagierte Weltsicht beruft, fordert sie für sich eben die Unterscheidung zwischen radikal und gemäßigt, gewaltbereit oder eher diskursorientiert ein, die sie ihrem imaginierten Gegner, dem ideologisch vermeintlich geschlossenen Islam, stets verweigerte.

Norway attacks aftermath

Nach den Anschlägen in Norwegen herrscht große Trauer. Niemand dürfte damit gerechnet haben, dass die Anti-Islam-Bewegung ein ähnliches Tatmuster und einen ähnlichen Brutalisierungsfaktor hervorbringen würde wie ihr imaginierter Gegner. 

(Foto: dpa)

Jedem jedoch, der die Islamkritik für ihre undifferenzierte Haltung zum Islam und den Muslimen bislang aus guten Gründen angegriffen hat, sei jetzt empfohlen, der Islamkritik dieselbe Differenzierung nicht vorzuenthalten - selbst dann nicht, wenn diese lauthals jede Verantwortung für die Tat in Norwegen ablehnt und sich der Aufarbeitung der eigenen Positionen sowie der Abgrenzung gegen radikale Tendenzen noch verweigert.

Ganz unabhängig also davon, was die Islamkritik selbst an Aufarbeitung leistet oder nicht, gestehen wir ihr, ja sogar ihren abgedrehteren Vertretern zu: Dies haben sie nicht gewollt. Nur was wollen sie dann? Auf unerwartete Weise könnte uns die Tat von Anders Breivik eine Richtung weisen.

Gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem islamischen Fundamentalismus und seinem ideologischen Gegner, der europäischen Anti-Islam-Bewegung, waren den hellsichtigeren Beobachtern immer schon aufgefallen. Gleichwohl dürfte niemand damit gerechnet haben, dass die Anti-Islam-Bewegung auch ein ähnliches Tatmuster, einen ähnlichen Brutalisierungsfaktor hervorbringen würde. Überraschend ist ferner, dass die Mimesis der Gewalt nicht zu einer Nachahmung der Attentäter von New York, Madrid oder London geführt hat.

Wäre es das Ziel gewesen, diese zu spiegeln oder sich für ihre Taten zu rächen, hätte Breivik seine Bombe im Regierungsviertel von Riad zünden, in Skandinavien Asylantenheime in Brand setzen oder wie der Scharfschütze von Malmö im Jahr 2010 dunkelhäutige Menschen jagen müssen.

Islamischer Terror nicht primär gegen den Westen gerichtet

Solche Taten, so schrecklich sie gewesen wären, hätten uns nicht annähernd in der Weise erschüttert, wie es nun der Fall ist. Und die Islamkritik wäre vermutlich ebenso ungeschoren davongekommen wie nach dem Dresdner Gerichtssaalmord vom 1. Juli 2009, der gleichermaßen islamfeindlich und rechtsradikal motiviert war wie die Taten Breiviks, der aber ein Nachdenken, wie es jetzt anhebt, verblüffenderweise nicht ausgelöst hat - weil das Opfer niemand von "uns" war?

Der uns alle verstörende und für die Islamkritik hochnotpeinliche Aspekt des Massakers in Norwegen liegt darin, dass das - dem Attentäter selbst kaum bewusste - Nachahmungsmuster nicht das des islamischen Terroristen im (und gegen den) Westen ist, sondern das des Terrors von Muslimen gegen Muslime.

In der Perfektion von Planung und Ausführung ist Breiviks Tat mit der Mohammed Attas am 11. September 2001 vergleichbar. Von der Zielrichtung her ähnelt sie jedoch den Aktionen der vielen Hundert zumeist namenlosen Attentäter, die sich auf den Märkten von Peshawar, Kabul oder Bagdad in die Luft sprengen, um möglichst viele ihrer Glaubens- und Leidensgenossen mit in den Tod zu reißen.

Die Islamkritik war immer blind gegen die Tatsache, dass der islamische Terror nicht primär gegen den Westen, sondern gegen die Andersdenkenden in der eigenen Welt, unter den Muslimen, gerichtet ist. Während dort bis heute Anschläge an der Tagesordnung sind, haben sie sich bei uns als große Ausnahme erwiesen, und dies nicht nur dank wachsamer Behörden, sondern vor allem, weil die eigentliche Front der Auseinandersetzung nicht dort verläuft, wo es die Islamkritiker argwöhnen und behaupten: hier bei uns.

Die anderen sind wir selbst

"Der Krieg in unseren Städten" lautete der Titel eines 2003 erschienenen Buchs, das für die paranoide Richtung der Islamkritik typisch ist. Udo Ulfkotte, der Autor, forderte darin unter anderem die Aufstockung der GSG 9 und anderer Antiterrorkommandos, damit wir gegen die zu erwartenden Angriffe von Muslimen aus dem Inneren unserer Gesellschaft gewappnet sind. Nun aber wollte den "Krieg in unseren Städten" ausgerechnet jemand auslösen, der derselben anti-islamischen Denkschule wie Ulfkotte angehört. Die Aufstockung der Anti-Terror-Einheiten zu fordern: Es klingt, von heute aus betrachtet, als habe uns Ulfkotte damit vor der Radikalisierung seiner eigenen Ideen schützen wollen.

Der Hass auf den Islam und die paranoiden Ängste vor einer islamischen Unterwanderung Europas haben Breivik also nicht zum Krieg gegen die Muslime veranlasst (auch wenn unter seinen Opfern zahlreiche muslimische Einwanderer oder deren Kinder sind), sondern zu einem maximal brutalen Schlag gegen die eigene Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund besteht das eigentliche Trauma der Islamkritik nicht darin, dass Breivik ihre Ideen zitiert und sich daraus eine licence to kill gebastelt hat, sondern dass seine Tat unmissverständlich die wahre Stoßrichtung dieser Bewegungen offenlegt: die eigene Gesellschaft, wie sie nun einmal ist: Europa, der Westen selbst.

Der 22. Juli 2011 hat gezeigt, dass die greifbarste Frucht der islamkritischen Aktivitäten bislang nirgendwo die Zurückdrängung des Islams ist, sondern nur die Spaltung eben derjenigen Gesellschaft, für die die Islamkritik zu sprechen vorgibt, die sie verteidigen und stärken will. Die anderen, lernen wir jetzt, sind wir selbst. Die Anti-Islam-Bewegung hat nicht den Hass gegen den Islam, sondern den gegen das heutige Europa hochgepäppelt, gegen jeden europäischen Bürger und erst recht jeden Politiker, der den Makel hat, sich nicht von ihr irre machen zu lassen.

Niemand, nicht einmal die entschiedensten Kritiker der Anti-Islam-Bewegung, haben das ganze Ausmaß dieses autoaggressiven Potentials erahnen können. Vielmehr haben wir uns von der Rhetorik der Anti-Islam-Bewegung, ja vom bloßen Namen "Islamkritik" in die Irre leiten lassen. In Wahrheit ist der Islam hier nur die (stark überstrapazierte) Bande, über deren Umweg die Kugeln der Kritik die eigene Gesellschaft anstoßen sollen. Die Islamkritiker kritisieren den Islam und meinen die eigene Gesellschaft, die nicht so ist, wie sie sie sich wünschen.

Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" war ein Paradebeispiel dafür, wie eine im Prinzip hilfreiche, aber offenbar wenig willkommene Kritik (am nicht mehr finanzierbaren Sozialsystem, am Werteverfall, an Bildungsferne und anderem) in eine unfruchtbare und überaus hässliche Islamdebatte verdreht wurde, sodass sie sich damit am Ende selbst kastrierte. Sarrazin, der als Beamter gute Arbeit geleistet und uns sicher etwas zu sagen gehabt hätte, ist in die Falle getappt, die sich die Islamkritik immer selbst stellt, wenn sie behauptet, wir litten weniger an uns selbst als an den anderen.

Viele gegensätzliche gesellschaftliche Visionen

Es mutet vor diesem Hintergrund naiv an, an der Islamkritik vornehmlich das verzerrte, kenntnislose und oftmals zu rassistischen Stereotypen erstarrte Islambild zu bemängeln. Man ist ihr damit nur auf den Leim gegangen. Viel besser wäre es gewesen, mit Nachdruck die Vorstellungen der Islamkritiker von ihrer eigenen Gesellschaft herauszuarbeiten. Denn je genauer man hinschaut, desto klarer wird: Hinter dem gemeinsamen Feindbild Islam verbergen sich viele, oft sehr gegensätzliche gesellschaftliche Visionen. In der Ablehnung der gegenwärtigen Zustände ähneln sie sich, in ihren Zielvorstellungen sind sie äußerst verschieden.

Die islamkritische Bewegung einer Differenzierung zu unterwerfen, wie es nach dem 22. Juli kaum anders möglich sein wird, bedeutet, ihr den "Islam" aus dem Namen zu streichen und sie, nackt wie sie dann vor uns steht, noch einmal zu fragen: Was will sie? Die Spreu vom Weizen, das Indiskutable vom Diskutablen wird dann leichter zu trennen sein.

Der Autor ist Islamwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Chefredakteur der vom Goethe-Institut herausgegebenen arabischen Zeitschrift Fikrun wa Fann (Kunst und Gedanke). Demnächst erscheint: "Aufbruch in die Vernunft. Islamdebatten und Islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen" (Bonn 2011).

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