D. F. Wallace: "Unendlicher Spaß":Hydroponisches Marihuana

Vor einem Jahr erhängte sich der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace. Jetzt erscheint sein großer Roman "Unendlicher Spaß" auf Deutsch.

Alex Rühle

Wahrscheinlich muss man doch mit seinem Selbstmord anfangen. Schließlich hängt David Foster Wallace seit dem 12. September 2008, dem Tag, an dem er sich in seiner Garage einen Strick knotete, über seinem eigenen Werk. Wallace wurde nur 46 Jahre alt, am Ende hatte er die Depressionen, unter denen er seit seiner Jugend litt, nicht mehr ausgehalten. All die selbstironischen Sprüche, die er im Verlauf seines Lebens geklopft hatte - "Ich hatte mit 20 eine Art Midlifecrisis, weshalb ich in Sachen Langlebigkeit schlechte Karten haben dürfte", sagte er in einem Interview - färbten sich im Nachhinein tiefschwarz ein. Wie heißt es doch in "Unendlicher Spaß": "Witze waren oft die Flaschen, in denen klinisch depressive Menschen ihre gellendsten Hilferufe nach jemandem aussendeten, der sich um sie kümmern sollte."

D. F. Wallace: "Unendlicher Spaß": DAVID FOSTER WALLACE:Unendlicher Spaß. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1552 Seiten, 39,95 Euro. Der schöne, schmale Band mit den vier Texten "Zusatzmaterial" kostet fünf Euro.

DAVID FOSTER WALLACE:

Unendlicher Spaß. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1552 Seiten, 39,95 Euro. Der schöne, schmale Band mit den vier Texten "Zusatzmaterial" kostet fünf Euro.

(Foto: Foto: Verlag)

Sein Tod schickte Schockwellen durch die Literaturwelt. Es gab vier öffentliche Gedenkveranstaltungen, und aus den Nachrufen war zu spüren, wie massiv dieser Tod viele umzutreiben schien. Klar, Wallace starb jung, und kaum einer hatte von seiner schweren Krankheit gewusst. Dann war da diese auratische Ausnahmebiographie: einer der besten Tennisnachwuchsspieler seines Landes; der doppelte Universitätsabschluss, in modaler Logik und in Literaturwissenschaften.

Seine saukomischen Essays und Riesenreportagen. Garniert von dieser merkwürdigen Familiengeschichte: Dass er aus dem ländlichen Illinois stammte, aus der Nähe einer Stadt namens Normal, dabei aber aus einer bizarren Intellektuellenfamilie: die Eltern, die einander händchenhaltend im Bett den Ulysses vorlasen; die Mutter, eine Linguistin, die ihm im Grundschulalter Wörterbücher schenkte und mit der er eigene Wörter erfand, "greebles" für die Flusen, die man abends oft zwischen den Zehen hat, "twanger" für etwas, dessen Bezeichnung man gerade vergessen hat.

Vor allem aber war da dieses Werk, bestehend aus drei Erzählungsbänden, einem frühen Roman und den 1500 Seiten "Unendlichem Spaß", diesem Himalaya der Postmoderne, von dem Zadie Smith sagte, Wallace habe damit bewiesen, "dass es den Schriftsteller, von dem ich immer hoffte, dass es ihn schlicht nicht geben kann, eben doch gibt: ein Visionär und zugleich ein Handwerker, ein Komiker, der zugleich so ernsthaft ist, wie man nur sein kann."

Nun also kommt die Übersetzung dieses Romans mit einer mächtigen journalistischen Bugwelle auf den deutschen Markt: Der Spiegel besuchte die Hinterbliebenen, die Eltern, die Schwester, den Lektor und seine deutsche Stimme, den Übersetzer Ulrich Blumenbach, der sechs Jahre lang an der deutschen Fassung saß. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat das Buch abschnittsweise über zehn Wochen hin gelesen, Blumenbach schreibt über die Erfahrung dieser Übersetzungsleistung und der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Seite www.unendlicherspass.de freigeschaltet, auf der sich hundert Tage lang Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Feldwaldwiesenleser über ihre Lektüre des Buchs öffentlich austauschen sollen.

Natürlich hat das etwas von einem Verkaufsgag, aber es zeigt auch den Nimbus, der Wallace und seinem erratischen Roman mittlerweile zugewachsen ist: hundert Tage, um gemeinsam durch dieses Textgebirge zu krabbeln und ameisengleich exegetische Krümel zusammenzutragen.

Nicht zu vergessen das "Zusatzmaterial", das der Verlag anbietet, und in dem Dave Eggers und Jonathan Frantzen erklären, warum sie Wallace für den wichtigsten Autor und "Infinite Jest" für das größte Buch unserer Zeit halten. Weil er, so Frantzen, "die erregendste, die erfindungsreichste rhetorische Virtuosität aller lebenden Schriftsteller besaß. Weit draußen bei Wort Nummer 70, 100 oder 140 in einem Satz in den Tiefen eines drei Seiten langen Absatzes voll makabrem Humor oder irrwitzig netzartiger Bewusstheit roch man noch das Ozon der knisternden Präzision seiner Satzstruktur".

Und weil "Infinite Jest", wie Eggers sagt, "ein Raumschiff ohne erkennbare Einzelteile ist, es gibt keine Nieten oder Schrauben, keine Ansatzpunkte, keine Möglichkeit, es auseinanderzunehmen". Also jetzt mal halblang. Mag ja sein, dass dieses sperrige Trumm von einem Buch seinerzeit wie ein Meteor in die handsame Literaturlandschaft seiner Zeit krachte. Aber "unendlicher Spaß" ist kein hermetischer Monolith. Auf den ersten Blick bietet es sich eher dar wie eine Art vollgeräumte literarische Spielzeugkiste.

Anfang der neunziger Jahre, zum Zeitpunkt der Niederschrift, spielte das Ganze in einer nahen Zukunft, die aber heute größtenteils schon wieder Vergangenheit ist: Die Handlung setzt ein um die Jahrtausendwende und endet 2010. Wobei unsere Zeitrechnung abgelöst wurde durch die sogenannte Sponsorenzeit: Konzerne kaufen sich von der Regierung einzelne Jahre und nennen diese dann nach ihren Produkten: "Jahr des Whoppers", "Jahr des Glad-Müllsacks".

Ausnehmend hässlich?

Im Deal inbegriffen ist die Verkleidung der Freiheitsstatue mit Produkten der Sponsorenfirma. Die meisten Ereignisse finden im "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" statt, in dem die Freiheitsstatue eine Riesenwindel trägt. Einem Normalleser wäre es wahrscheinlich kaum möglich, die Geschehnisse an unsere Zeitrechnung anzukoppeln, die Wallace-Exegeten haben aber anhand einzelner Anspielungen nachgewiesen, dass justament dieses Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche unserem Jahr 2009 entspricht.

Lebenstechnisch hat das Buch wenig von Science-Fiction, im Gegenteil, die technischen Erfindungen wie der multifunktionale Teleputer wirken in ihrer Klobigkeit gegen die geschmeidige Intelligenz des iPhones oder die Kraft des in alle Lebensbereiche ausstrahlenden Internets fast niedlich: Gerade da also, wo das Buch einem technische Zukunftsmusik vorspielen will, klingt es ziemlich retro. Da aber, wo es an seinen dunklen Schmerzkern kommt, ist es ganz und gar aktuell.

Es geht um das Leben an einer Tennisakademie und um einen Haufen frankokanadischer Separatisten, um die Macht der Werbung und um Kindsmissbrauch, um den Kampf des Ex-Ganoven Don Gately gegen seine Sucht und die "Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten", die ihre jeweiligen Deformationen vor ihrer Umwelt verstecken. Zu ihnen gehört Joelle Van Dyne, die im Radio eine bizarre Sendung als Madame Psychosis moderiert und ihr Gesicht hinter einem Schleier versteckt, weil sie angeblich so schön ist, dass keiner ihren Anblick erträgt.

Oder ist sie doch ausnehmend hässlich? Immerhin hat ihre Mutter ihr mal Säure ins Gesicht geschüttet. Jedenfalls scheint sie das eigentliche Objekt der Begierde zu sein, ist sie doch die Hauptfigur des titelgebenden Films "Unendlicher Spaß", der so grandios sein soll, dass jeder, der ihn sieht, in eine Art Entertainmentstarre verfällt und daran stirbt. Überflüssig zu sagen, dass "Unendlicher Spaß" auf den Hamlet anspielt und überhaupt alle Namen mehrfach konnotiert sind.

"Ich bin komplex"

Man könnte aber auch sagen, es geht um die geradezu tödliche Kraft der Zerstreuung. Um die Frage, warum die Menschen sich freiwillig antun, was sie tun: Fernsehen, Drogen nehmen, trinken. Wallace wollte das Buch zunächst "A Failed Entertainment" nennen, weil es, wie er selber sagte, "strukturiert ist wie eine Unterhaltungssendung, die nicht funktioniert". Das stimmt insofern, als immer wieder Personen auftauchen, ohne dass man erführe, wo sie herkommen oder wie es mit ihnen weitergeht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch so ziemlich alle Textgattungen durchspielt, die es gibt, den stream of consciousness genauso wie den verbrabbelten Monolog oder den medizinischen Exkurs.

Man watet seitenlang durch Gaddismäßiges Partygelaber, es gibt hart gegeneinander geschnittene Therapieprotokolle und vernuschelten Slang, verfremdete Sportreportagen, trockene Listen und Rezepturen, filmwissenschaftlichen Seminarsprech und Technikgeknatter. All das wuchert in alle Richtungen, nach vorne und hinten (die Kapitel sind zeitlich wild durcheinandergemischt) nach oben und unten (Wallace arbeitet viel mit Fußnoten). Kurzum, man weiß im Verlauf des Buches oftmals nicht, wo einem gerade der Kopf steht.

Also nochmal von vorne, allererster Satz: "Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen." Wir befinden uns im Kopf von Hal Incandenza, einer Art Alter Ego von David Foster Wallace: große Tennisbegabung; verschlingt Wörterbücher und hat ein Faible für Hapax Legomena, also Wörter, die in der gesamten Literaturgeschichte nur einmal vorkommen; kifft exzessiv und hat für die Aufnahmeprüfung an der University of Arizona neun Essays vorgelegt, die allesamt dermaßen profund sind, dass ihm die Prüfungskommission nicht abnimmt, sie selbst verfasst zu haben. Hal sitzt einer Riege misstrauischer Prüfer gegenüber, die von ihm wissen wollen, wie er all diese brillanten Texte geschrieben hat.

Das Problem: Er sagt nichts. Schweigt. Seitenlang, bis es aus ihm herausbricht: "Meine Bewerbung ist nicht gekauft. Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte. Erfahrungen und Gefühle. Ich bin komplex." Die Prüfer weichen entsetzt zurück, und als Leser merkt man erst aus ihren Reaktionen, dass Hal an einer Art kommunikativem Locked-in-Syndrom zu leiden scheint: Während man liest, wie er sich geschliffen und in flehenden Sätzen erklärt, scheinen die Prüfer nur grässlichen Lärm und beängstigende Bewegungen wahrzunehmen: ",Die Geräusche, die er gemacht hat.' ,Animalisch.' ,Subanimalische Laute und Geräusche.' ,Sein Gesicht. Als würde er erwürgt. Oder verbrannt. Glauben Sie mir, das war ein Blick in die Hölle."

Die Depression, das Leiden unserer Tage

Am Ende des Kapitels stellt sich Hal, der mittlerweile auf dem Steinboden einer Toilette festgehalten wird, vor, wie sich "ein müder kubanischer Pfleger" zu ihm runterbeugt und fragt, "lass hören, Kumpel, was hast du denn zu erzählen?" Mit dieser Erfahrung extremer Einsamkeit, mit dem unerfüllten Wunsch, sich mitzuteilen, und mit der Irritation des Lesers (Spinnt nun Hal? Oder sind die Prüfungskommission und der Rest der Welt verrückt?) öffnet sich der Roman auf die folgenden 1500 Seiten und sein Personal.

Als Wallace an diesem Roman saß, wirkte die Ironie in der amerikanischen Postmoderne noch als Königsweg der Erkenntnis. Wallace ist der Vollblutironiker, der zugleich sieht, dass die Ironie längst zur läppisch kraftlosen Attitüde verkommen ist. Bereits Anfang der neunziger Jahre entwickelte er in einem Essay über die Geschichte des Fernsehens eine Art literaturästhetische Theorie in Opposition zur Unterhaltungsindustrie. "E unibus pluram" beschreibt, wie das Fernsehen in seinen Erzählformen immer intelligenter und selbstreferentieller wurde. Das postmoderne Erzählen, so Wallaces These, unterschätzte die Macht des Fernsehens, weil es viel zu lange glaubte, mit ironischem Zwinkern auf die durchmedialisierte Welt blicken zu können, obwohl diese längst ironisch zurückfunkelte. Wie aber noch etwas lächerlich machen, das längst alles Lächerliche absorbiert hat?

In seinen Augen muss der Erzähler wieder den Ernst riskieren, den Schmerz erzählen, authentisch sein: "Vielleicht besteht die nächste Generation literarischer Rebellen ja aus einem verrückten Haufen von Anti-Rebellen, die die kindliche Frechheit besitzen, wieder von all den uralten menschlichen Problemen und Gefühlen zu erzählen, die so gar nicht trendy sind." Hal Incandenza, sein eigener Antirebell, tut genau das, wenn er sagt, "dass das, was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls gibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist."

Wie ein schwarzer Faden ziehen sich Depressionsbeschreibungen durch das Buch, von der hoffnungslosen Ödnis an einem Morgen, "wenn die Seele schon weiß, dass der bevorstehende Tag weniger zu traversieren als gewissermaßen vertikal zu erklimmen" ist, bis zur Empörung einer Patientin über das läppische klinisch-vokabularische Vokabular: "Depression, das klingt so, als wäre man bloß tierisch traurig (...) Es ist eher Grauen als Traurigkeit. Ja, eher wie Grauen. Es ist, als passiert gleich was Schreckliches, das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann - nein, schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann, weil da dieses Gefühl ist, dass man sofort was machen muss, um es zu stoppen, aber man weiß nicht, was man machen muss, und dann passiert es auch, die ganze schreckliche Zeit, es passiert gleich und es passiert jetzt, alles zur selben Zeit."

Es wäre interessant, "Unendlicher Spaß" parallel zu lesen mit "Das erschöpfte Selbst", der Studie von Alain Ehrenberg, in der der Pariser Soziologe Mitte der neunziger Jahre, also zur selben Zeit, in der Wallace an seinem Roman saß, die Depression als symptomatische Krankheit unserer Tage deutete: Ehrenberg arbeitet heraus, wie sich seit den siebziger Jahren das freiheitliche Versprechen der Selbstverwirklichung hinter dem Rücken der so wunderbar Selbstverwirklichten schleichend in einen dämonischen Zwang verwandelte: Indem das authentische Selbst umfunktioniert wurde zum produktiven Motor all unseren Handelns, ist die Erschöpfung programmiert. Erschöpfung als Dauerzustand aber mündet in Depression, die bei Ehrenberg definiert wird als "Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen."

Die Depression scheint sich in Wallaces naher Zukunft sogar bis tief in die Sprache hineingefressen zu haben: Hal, der Wörterbuchverschlinger, behauptet eingangs, die aktuelle Ausgabe des Oxford English Dictionary kenne 19 Synonyme für teilnahmslos. Da müssen in relativ kurzer Zeit 17 dazugekommen sein, im Oxford English Dictionary von 1992, mit dem Wallace arbeitete, standen nur zwei Synonyme . . .

Überhaupt: die Synonyme und wunderbaren Fremdwörter. Ein Fettarsch wird mit "glutealer Hyperadiposität" umschrieben, es gibt "magiskulierte Schimpfwörter" und "hydroponisches Marihuana", die Leute haben "modraogoide Nasen" und operieren mit "thigmotaktischen Eletroden", wobei man sich nicht sicher sein kann, ob es all diese Wörter wirklich gibt, oder ob da wieder mal eine der Personen, ähnlich der wackeren Frau Stöhr im "Zauberberg", fremdsprachlich vor sich hindilettiert.

Viele Kritiker machen ein solches Gewese um diese unbekannten Wörter, als könne man dieses Buch ohne einen Stapel Fachwörterbücher unterm Arm niemals durchqueren. Dabei erinnern diese Begriffe nur an kleine wunderschöne Fische, die am Grunde dieses Textozeans vorbeigeschwommen kommen, man muss sie nicht verstehen, sondern kann sich vielmehr an der unendlichen Vielfalt der Sprache erfreuen, ja zeitweise neologiert man nach diesen Ausdrücken, nach der Fülle und Sprachwucht, die Ulrich Blumenbach so brillant nachempfindet und oftmals kongenial neuschafft.

Auch die langen Perioden, vor denen viele warnen, sind nicht störend, im Gegenteil, zuweilen haben sie die verwegene Eleganz einer schlanken Hängebrücke, die sich über die Seite wie über ein zerklüftetes Tal spannt. Geradezu teuflich wirken sie, wenn sie einhergehen mit Beschreibungen der Enge: Es gibt da die Szene, in der ein stark verschnupfter Frankokanadier überfallen und geknebelt wird. Da er kein Englisch kann, vermag er sich dem Einbrecher gegenüber nicht verständlich zu machen, und als der immer weiter vor sich hin mäandernde Satz, in dem sein qualvolles, stundenlanges Ersticken erzählt wird, nach eineinhalb Seiten endlich an seinen erlösenden Punkt kommt, holt man beim Lesen instinktiv Luft.

Was das Lesen hingegen streckenweise zu qualvollen Exerzitien macht, ist Wallaces Taktik der Mimesis ans Hässliche, Unübersichtliche und Verlaberte unserer Zeit. Wallace stapelt immer wieder Material auf wie Geröll, wuchert in eine flächige Textur aus, und beim Durchqueren mancher endloser Tennispassagen kommt man sich vor, als müsste man in der trockenen Hitze Arizonas den roten Staub des Sandplatzes essen. Er selbst gab einmal eine merkwürdige Definition seines Berufs: "Heute habe ich mehr als 500 000 Einzelinformationen erhalten, von denen aber nur 25 relevant sind. Mein Job ist es, daraus schlau zu werden."

Wenn er nun aber den Leser wieder einmal mit 500 000 Einzelinformationen flutet, hat er dann seinen Job nicht gemacht oder ist das der Kunstgriff, der uns zeigen soll, dass die Welt in endlose, immer kleiner werdende Wissensfraktale zerfällt? Schon klar, Wallace will damit unser nervöses Rezeptionsverhalten attackieren, das Zapp und Hopp, mit dem wir heute vor dem Fernseher, vor Büchern und vor dem ganzen Leben sitzen. Aber zuweilen wirkt es auch, als würde sich all das hässliche Material den Autor zurückerobern und verschlucken.

Wobei das Wallace wahrscheinlich gefallen hätte, der Autor, der anonym in seinem Werk verschwindet: Die Einzigen, denen er sich in seiner Danksagung verpflichtet, sind die Anonymen Alkoholiker, nicht die Vereinigung selbst, sondern Einzelne, die zu den offenen Treffen in Boston kamen und die "mir äußerst geduldig, redselig, offen und hilfreich Auskunft gegeben haben. Ich kann diesen Männern und Frauen am besten danken, indem ich ihre Namen für mich behalte."

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