"Crosseyed Heart" von Keith Richards:Hört ihr diese Gitarre?

Keith Richards

Niemand ahnte, welches Beharrungsvermögen in ihm stecken würde: Keith Richards, Gitarrist der härtesten Rockband der Welt.

(Foto: Hedi Slimane)

Keith Richards erzählt in einem Dokumentarfilm Legenden und hat ein neues Album aufgenommen, ohne die Stones. Auch wenn Mick Jagger fehlt: "Crosseyed Heart" ist grandios.

Von Willi Winkler

Es beginnt mit einem Fiasko, wie es schöner nicht zu haben ist, und dabei ist Keith Richards berüchtigt dafür, dass er sich bei den Konzerten der Rolling Stones gleich bei der ersten Nummer, beim ersten Riff, den er auch noch selber erfunden hat, gnadenlos verhaut.

Auf seinem neuen Soloalbum ist das Fiasko anders und noch besser: Er juckelt die akustische Gitarre, als wäre er der wiedergeborene Robert Johnson, kurz nachdem er seine Seele an der Kreuzung unten beim Sumpf an den Teufel verkauft hat, für den er jetzt spielt und zwar "Crosseyed Heart". Da schielt das Herz, da geht das Auge fremd, da wildert das verrückte Hirn, weil es zwar gut ist, die eine ("sugar") zu haben, aber muss man deshalb unbedingt die andere ("honey") rechts oder links liegen lassen? Dann bricht der Picker ab und der Sänger auch und schnauft: "An' that's all I got" - mehr hab ich nicht.

Das ist eine ganz abgefeimte Lüge, denn er fetzt ja gleich danach mit "Heartstopper" los, als müsste er einer 80 000-Mann-Arena einheizen, mit dem mörderisch treibenden Schlagzeug von Steve Jordan und Waddy Wachtel an der Gitarre. Oder sagen wir es so: Keith Richards, Rhythmusgitarrist und Tonmeister einer betagten Combo und inzwischen auch schon 71, hat ein Solo-Album herausgebracht, neben dem die letzten fünf Gemeinschaftsplatten der Rolling Stones ganz schnell auf Single-Größe zusammenschrumpeln. "Crosseyed Heart" ist aber kein weiteres stadiontaugliches Mittel-Metal-Album der besten Stadionband aller Zeiten und Völker, sondern eine biographia musicalis und versammelt alle Stilrichtungen, die den Autor seit seiner Kindheit drunten im Delta von Dartford nahe London beeinflusst und beschäftigt haben: Skiffle, Blues, Jazz, Reggae, Country und nicht wenig Radio-Kitsch.

Was davon nur aus dem Gerät zu locken war, hörte er in der bitteren englischen Nachkriegszeit, oft der letzte Dreck, wie er sagt, aber eben auch manchmal Johnny Cash und Hank Williams, wofür man, wenn die Sendung aus Nashville oder noch weiter westlich kam, mit dem Empfänger auf die Straße gehen musste, um überhaupt etwas zu hören.

"Crosseyed Heart" ist nicht sein erstes Solo-Unternehmen, sondern bereits die dritte Platte, die er sich mit Musikern außerhalb der Hauptbeziehung (nennen wir sie "sugar" oder Mick and Slaves) gönnt. Die Band versteht es nach wie vor, sich auf Großtourneen restlos zu erschöpfen, dass die Kraft hinterher nur mehr zum Geldzählen reicht. Keith Richards sind solche fünf oder sechs Jahre dauernden Winterschläfrigkeiten einfach zu viel, er langweilte sich offensichtlich, sonst hätte er nicht zwischendurch Werbung für eine Krokotasche gemacht, der er zum Verwechseln ähnlich sah, und damit auch noch die Artenschützer auf die Palme gebracht. Oder diese Auftritte als Jack Sparrows Vater in "Fluch der Karibik". Image ist ja gut und schön, aber Selbstparodie hat schon die Größten um ihren guten schlechten Ruf gebracht, fragen Sie Robert De Niro.

Solo-Platten werden keineswegs begierig erwartet, schließlich hat der Fan ein grundgesetzlich garantiertes Recht auf mehr vom Selben. Keith Richards wird also gewarnt sein: Mick Jagger verkaufte von seiner Solo-Nummer "Goddess in the Doorway" 2001 am ersten Tag weniger als tausend Stück. Der Künstler musste sogar eisnebelverstärkt bei Thomas Gottschalk auftreten, um den jämmerlichen Verkauf einer allerdings auch recht faden Platte anzukurbeln.

Weil das Werk ja ins Gespräch kommen muss, hat Richards nebenbei in einem Interview das allseits geschätzte Beatles-Album "Sgt. Pepper" heruntergeputzt und die Rapper völlig zu Recht als unmusikalische Hornochsen beschimpft. Gut, das war Verkaufsgespräch, und im weiteren, wenn auch aufwändigeren Sinn gehört auch "Under the Influence" dazu, starring, wer hätte das gedacht: Keith Richards, Regie: Morgan Neville, ein Film, der nicht ins Kino kommt, sondern auf Netflix zu sehen ist.

Wink mit der doppelhalsigen Gitarre

"Under the Influence" ist ein Polizei- und Gerichtsbegriff für besoffen oder berauscht, also für den Kenner - und wer würde Keef! nicht kennen? - ein Wink mit der doppelhalsigen Gitarre als Hinweis auf die diversen und immer wieder gern ausgebreiteten Abenteuer, die unser Held mit allerlei Drogen und anschließenden Zwangsmaßnahmen bestanden hat. Hier ist aber nur der Einfluss verschiedener Musikrichtungen und Leitfiguren von Großvater Gus Dupree über Billie Holiday und Muddy Waters gemeint.

Mit fetter Ironie setzt der Film mit der Ouvertüre zur "Zauberflöte" ein, tropische Blüten erscheinen in Großaufnahme, ein älterer Herr schreitet durch ganz viel Grün und erzählt von früher, nämlich wie alles kam, wo alles herkam. Es ist natürlich Keith Richards, der offenbar seine amerikanischen Latifundien durchmisst und nach Art eines museumspädagogischen Nachmittags sein Werk erklärt.

Als Tourist im eigenen musikalischen Leben

Ganz neu ist das nicht, schließlich hat er es schon besser in seiner Autobiografie "Life" erzählt, aber dafür findet er immer wieder schöne Formulierungen, etwa wenn er sagt, dass sich die schwarzweiße Nachkriegswelt, in der er in England aufwachsen musste, mit dem Auftreten von Elvis Presley über Nacht in Technicolor verwandelte. Die fünf britischen Buben wollten spielen, singen und vor allem sein wie die Amerikaner. Zu ihrer Überraschung merkten sie in Amerika, dass dort niemand ihre Helden kannte. Als er 1965 in den Chess Studios in Chicago Muddy Waters vorgestellt wurde, hatte der weiße Farbe an den Händen, weil er die Decke ausmalte: Der größte lebende Bluessänger, der Mann, dem sie den Namen der Band verdankten, musste sich mit Malerarbeiten etwas dazuverdienen. Nur eine fromme Legende zwar, aber Keith erzählt sie mit der Inbrunst des Jüngers auch hier wieder.

Völlig zu Recht verweist der Musikologe Prof. Dr. (Sidcup Art College) Keith Richards auf Gemeinsamkeiten zwischen dem amerikanischen schwarzen und dem britischen Liedgut, nämlich dass noch die abgefucktesten Bluesnummern keltischen Ursprungs sind, Heimatkunde.

Leider bewegt er sich zunehmend wie ein Tourist durch sein musikalisches Leben. Die Perspektive ist der Rücksitz einer Limousine, bei der er manchmal das Fenster herunterlässt, um Autogramme unters Volks zu werfen. Keith besucht, angeschärft durch eine Canyon-Einstellung von Kameramann Igor Martinovic die Hinterhöfe New Yorks, er reist nach Nashville und steht ehrfürchtig zwischen den Kirchenbänken des Ryman Auditorium, er fährt nach Chicago, wo die Rolling Stones 1964 "It's All Over Now" aufnahmen. Jamaika, wo er seit Jahrzehnten wie zu Hause ist, ist in Archivaufnahmen mit einem noch recht jungen Keith dabei, der mit den Schwarzen herumalbert. Reggae wurde nach dem Blues und Country seine dritte, nicht unbedingt glückliche Liebe, wie das Stück "Love Overdue" auf der Platte mit dem schielenden Herzen beweist.

Wo wir schon dabei sind: Auch wenn es von dem unsterblichen Blueser Lead Belly stammt, hätte er das schon immer unerträgliche "Goodnight, Irene" nicht nochmal aufnehmen müssen.

Aber es ist so rührend, wie er zwei frisch gekaufte Platten von Chuck Berry und Muddy Waters zeigt, genau die, darauf besteht er, die seien es gewesen, die Mick Jagger unterm Arm trug, als sie sich im Vorortzug nach London trafen. Bei aller gern ausgestellten Feindschaft mit dem anderen Glimmer Twin kann er nicht anders als von dieser schicksalsentscheidenden Begegnung zu schwärmen, aus der ihre Band hervorging.

Nicht weniger gerührt ist er, als ihm jemand den Kassettenrekorder bringt, mit dem er einst den Riff für "Street Fighting Man" aufnahm. Geradezu ehrfürchtig hört er sich an, wie der Song entstand und wie er immer noch klingt. Ein grausames vanity project bleibt der Film doch.

Aber die Platte!

Aber die Platte! Richtig ist, dass ihr der Gegenspieler, dass ihr das größte Großmaul, der arschwackelnde Mick Jagger schmerzlich fehlt. Keith hat einfach nicht seine Stimme. Kenner wollen wissen, dass der Knabe Keith einst über einen so schönen Sopran verfügte, dass er sogar in Westminster Abbey vor der damals auch noch etwas jüngeren Queen auftreten durfte. Auf Band-Tourneen darf er immer zwei Stücke vortragen, wenn Mick nach hinten ins Sauerstoffzelt eilt, um Luft für den nächsten Dauerlauf zu holen.

Aber diese Stimme, wie der ganze Mann ein liebevoll gearbeitetes Alterswerk, steht längst unter Denkmalschutz, vergleichbar nur mit jener von Bob Dylan. Damit kann Keith Richards tatsächlich Erstaunliches vollbringen, wenn er nach seiner Weise darüber klagt, dass die Bullen wieder hinter ihm her sind oder er statt Geld nur Löcher in der Tasche hat oder wenn er einen darüber informiert, dass er einen Morgenständer hat, der aber dann doch nicht so lang hält. Die good old Hasenpfoten-times sind halt vorbei, das postsexuelle Alter ist erreicht, aber dafür hat er, wie der Film zum Schluss zeigt, eine nette Frau, mit der er auf der Veranda herumliegt und dazu mit einer Hingabe raucht, die sonst nur Helmut Schmidt aufbringt, nur dass er einem dabei nicht zwischen zwei Lungenzügen erläutert, dass sich Russland und China nur autoritär regieren lassen, sondern Little Walters "Blue and Lonesome" auflegt.

Produktwarnung: Wer Keith Richards und die Rolling Stones nicht mag, hat Pech gehabt, aber Jesus hat auch nicht für alle gepredigt. "Crosseyed Heart" wird erst beim dritten Anhören gut, aber dann sollte für den vollendeten Genuss "Beggars Banquet" aufgelegt werden, es muss um Gottes willen nicht Vinyl sein, aber auf jeden Fall das erste Stück auf der zweiten Seite, richtig: "Street Fighting Man" - hört Ihr diese Gitarre? Das isser. Und damit wieder zurück zu "Crosseyed Heart". Im letzten Stück, "Lover's Plea", otisreddingt es zwar heftig, aber hört Ihr denn nicht, dass der Mann ein Genie ist? Dass er deshalb immer weiter machen muss und nienienie aufhören darf? Die Rolling Stones, hat er gerade verkündet, sind auf dem Weg ins Studio, sie wollen seinem Beispiel folgen und wieder Musik machen. Gutnacht, Keith.

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