Contra Video-Überwachung:Die verlorene Ehre - von uns allen

Es gibt unbestreitbaren Nutzen der Videoüberwachung. Doch der Preis, den eine Gesellschaft für diesen Nutzen zahlen muss, ist hoch. Dramatisch ist, dass sie nicht einmal abschätzen kann, ob er zu hoch ist.

Bernd Graff

Ja, es gibt unbestrittene, nicht zu widerlegende Erfolge. Ja, es ist auch so, dass Straftaten womöglich aufgeklärt werden können, die ohne dieses Hilfsmittel nicht aufgeklärt würden. Die im Dunkel, im Verborgenen weiter ihrer gerechten Strafe harren, weil Täter sich ohne dieses polizeiliche Hilfsmittel sicher fühlen können, dass ihnen niemand auf die Schliche kommt oder gar bei ihrem abscheulichen Tun zusieht. Insofern hat dieses Mittel nicht nur einen aufklärerischen Nutzen, sondern ist sogar von abschreckender Wirkung. Einerseits.

Andererseits aber muss man sich klar machen, was der Preis ist, den eine ganze Gesellschaft auf Schritt und Tritt für diesen Nutzen zu zahlen hat. Video-Überwachung, die jetzt im Fall des kleinen Mitja für eines der erschütterndsten Bilder gesorgt hat, das diese Republik je gesehen hat, das Bild des Neunjährigen, das ihn kurz vor seinem Tod anscheinend arglos neben seinem mutmaßlichen Mörder in einer Straßenbahn zeigt, diese Video-Überwachung bleibt von allenfalls zwiespältigem Nutzen.

Denn man muss sich vor zweierlei vor Augen halten: Erstens, auch dieses Straßenbahnfoto kommt zu spät, es wird die Schreckenstat nicht ungeschehen machen können, sondern allenfalls Gerechtigkeit und Justiz dabei helfen, einen Tathergang zu rekonstruieren und den Täter vielleicht dingfest zu machen. Aus polizeilicher Sicht ein unzweifelbarer Nutzen. Vielleicht hilft das Bild ja so auch, künftige Straftaten dieses Täters zu verhindern, wenn man ihn deshalb aufspüren kann, oder anderer, die um die Observierung wissen. Und doch bleibt der schale Nachgeschmack, dass dieses Bilddokument aus der Überwachungskamera eines der schrecklichsten Verbrechen nicht hat verhindern können, sondern nur mutmaßlich Indizien dazu liefert. Video-Überwachung bekämpft keine Ursachen, sie hilft bei der nachträglichen Aufklärung von begangenen Untaten.

Und dann muss man sich klarmachen, dass dieser im hier gegebenen Fall oder auch im Fall der Kölner Kofferbomber gleichwohl unbestrittene Nutzen täglich, stündlich, minütlich von jedem einzelnen von uns mit einem Verlust an Freiheit im allgemeinen und der Freiheit zur informellen Selbstbestimmung erkauft wird. Um unter besonderen Umständen mögliche Straftaten künftig besser aufklären zu können, wird eine ganze Gesellschaft in jeder gegebenen Minute in jeder Handlung gefilmt. Das öffentliche Leben, herunter gebrochen auf jedes Individuum wird aufgezeichnet. Es werden Daten gesammelt und archiviert - und womöglich zu unbekannten Zwecken verwendet. Wir alle, heißt das, stehen in Bank, Tankstelle, Bahnhof, Theater, Kino, Straßenbahn, auf öffentlichen Plätzen, in Tiefgaragen auf einer weit offenen Bühne, deren Zuschauer wir nicht kennen. Dazu noch die Spuren, die wir im Netz hinterlassen und die inzwischen fast unvermeidlichen RFID-Chips in den von uns erstandenen Waren und bewegten Gütern. Wir sind also jederzeit auffindbar und rekonstruierbar in unseren Wegen und Handlungen. Und wir wissen nicht, von wem und zu welchem Zweck man uns als Datenmaterial sichtet, ob überhaupt und welches Raster man uns dann überblendet und in welche Kontexte man uns stellt. Man überlege sich nur, was wäre, wenn man selber zufällig und ungerechtfertigter Weise als Video-Print durch die Presse ginge. Über so etwas hat Heinrich Böll einst die verlorene Ehre der Katharina Blum geschrieben.

Der Preis einer ständigen Überwachung jedes einzelnen ist hoch - ob er zu hoch ist, etwa für den relativen Nutzen im Fall des Mitja-Mordes, muss diese Gesellschaft für sich selber finden. Fest steht nur: Sie muss eine Haltung dazu finden.

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