Computerspiel:Auf der Suche nach der Handlung

In Titeln wie "Sunset" wird der Spieler zum Entdecker. Das kleine Spiel eines Entwickler-Duos steht für einen Trend.

Von Jan Bojaryn

Gegner? Gibt es nicht. Im neuen Computerspiel "Sunset" nimmt der Spieler zwar eine Perspektive ein, die man eigentlich von Egoshootern kennt. Das bedeutet, dass er die eigene Spielfigur nicht sieht, wohl aber die Spielewelt aus ihrer Perspektive. Doch ein Egoshooter, also ein Computerspiel mit Gewehren und ordentlich Geballer, ist "Sunset" eben gerade nicht.

Stattdessen blickt der Spieler mit den Augen der Reinigungskraft Angela auf die Welt, vor allem während ihrer Arbeit in einem Penthouse. Der Spieler erkundet das fremde Apartment, bis er und damit auch Angela selbst ein wenig heimisch werden in der kühlen Moderne der Wohnung. Und das soll ein Computerspiel sein?

Die Entwickler meinen es ernst: "Viele Spieler wollen vor allem eine Welt verstehen, indem sie Texte im Spiel lesen, alles erkunden und sich umschauen", erklärt die Co-Entwicklern Auriea Harvey. Zusammen mit Michaël Samyn bildet sie das belgische Künstlerpaar Tale of Tales. Die beiden entwickeln Spiele jenseits gängiger Erwartungshaltungen. Mit "Sunset" bedienen sie nun einen Trend, den sie selbst vor Jahren mit ausgelöst haben: Der Spieler entdeckt mehr, als dass er die Handlung nach vorne treibt, er erkundet mehr, als dass das Spiel ihm Neues von allein präsentiert.

Computerspiel: Immer schön reflektieren: Reinigungskraft Angela.

Immer schön reflektieren: Reinigungskraft Angela.

(Foto: Tale of Tales)

Interagieren kann Angela nur mit bestimmten Objekten. Dabei erledigt sie Aufgaben, die so gar nicht zu dem explosiven Handlungsangebot anderer Spiele passen. Sie putzt und räumt auf. Jeden Tag muss Angela eine kleine Liste von Aufgaben abarbeiten: Aschenbecher ausleeren, Geschirr spülen, Hemden bügeln. Für den Spieler ist dies stets nur ein Knopfdruck, mit dem sich die Zeit im Spiel um ein paar Minuten weiterdreht. Ist die Arbeit erledigt, steigt Angela in den Fahrstuhl und kehrt ein paar Tage später zurück. So geht das - in der Zeit des Spiels - ein Jahr lang. Aus den kurzen Eindrücken entsteht langsam ein Bild, ein Spannungsbogen, und eine Beziehung zwischen Angela und ihrem Auftraggeber.

Die Schlichtheit hat Methode: In einem früheren Titel von Tale of Tales konnten Spieler als Rotkäppchen dem Wolf im Wald begegnen - oder auch nicht, wenn sie einen Umweg nahmen. In einem anderen Spiel spazierte der Spieler als alte Frau über einen Friedhof. Das war's auch schon.

So etwas finden nur Menschen interessant, die sich für das unerschlossene Potenzial des Mediums Computerspiel interessieren; Menschen, die mehr Interesse am Medium an sich haben als an den Geschichten, die es erzählt. In den letzten Jahren haben Spieleautoren mit weniger allegorischen Erzählungen der Idee zum Erfolg verholfen. "Dear Esther", der interaktive Spaziergang eines depressiven Eremiten, und "Gone Home", die Erkundung eines leeren Wohnhauses, waren bei Kritikern und Spielern beliebt. Sie haben bewiesen, dass Gehen und Schauen einem großen Publikum als Möglichkeiten in einem Spiel genügen. Und sie besitzen das Potenzial, neue Spieler anzusprechen: Menschen, die eher von Spielwelten und Erzählungen begeistert sind als von der Fixierung auf Herausforderungen und Ziele. Solchen Menschen will der Spielentwickler Tale of Tales mit "Sunset" eine Tür öffnen. Wer von der beidhändigen Steuerung eines Egoshooters überfordert ist, kann das Spiel auch nur mit der Maus bedienen.

Tatsächlich gibt es mehr zu entdecken, als man am Anfang meinen mag. "Jedes Mal, wenn du spielst, könntest du etwas Neues sehen", erklärt Harvey. Das Verhältnis zwischen Reinigungskraft und Bewohner des Apartments ist politisch beladen. Der Auftraggeber nämlich hat Einfluss in der fiktiven Äquatorialrepublik Anchuria, in der Bürgerkrieg herrscht. Doch vor der offenen Rebellion in der neuen Militärdiktatur schreckt er zurück. In seiner großen Wohnung hortet er Kunstschätze, die draußen - im Krieg - zerstört würden. Und plötzlich sind es ganz große Fragen, denen sich Angela stellen muss: Kann der Schutz von Kulturgut schwerer wiegen als der Schutz von Menschenleben? Unter welchen Bedingungen ist Gewalt zu rechtfertigen? Entscheidungen können unerwartete Konsequenzen haben. Angela hadert in kurzen Monologen mit ihrem Los. Aber sie gibt ihrem Spieler keine Richtung vor. Und sie zwingt ihn so in seine Rolle vorm Bildschirm, die in dieser Konsequenz nur das Medium Spiel bietet: Er muss die Lage interpretieren und sich dann entscheiden.

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