Coming-of-Age-Drama:Die Bombe tickt leise im Hintergrund

Coming-of-Age-Drama: Jameelah (Emily Kusche, links) und Nini (Flora Li Thiemann) tragen ihr Entjungferungs-Outfit.

Jameelah (Emily Kusche, links) und Nini (Flora Li Thiemann) tragen ihr Entjungferungs-Outfit.

(Foto: Constantin)

Der Film "Tigermilch" begleitet zwei 14-Jährige, die sich entjungfern lassen wollen. Klingt voyeuristisch, ist aber ein Teenager-Drama, das weder tränendrüsig noch mit Krassheitskitsch vom Erwachsenwerden erzählt.

Von Juliane Liebert

Nini und Jameelah, beide 14 Jahre alt, wollen sich entjungfern lassen. Noch in diesen Sommerferien. Als erwachsener Zuschauer stellt einen dieser Plot schon in den ersten Filmminuten vor gewichtige Entscheidungen: Will ich das sehen? Darf ich das sehen? Wie strafbar mache ich mich, wenn ich bei der Suche von zwei 14-jährigen Mädchen nach Entjungferungsmöglichkeiten mitfiebere? Aber man soll sich seinen Ängsten bekanntlich stellen, und der Film hat ja schon angefangen - es hilft also nichts.

Da sitzt man dann - Soundtrack: Hip-Hop, was sonst - und sieht den beiden zu, wie sie auf dem Strich Freier aufgreifen wollen, in knallbunten Ringelstrümpfen. Das Popcorn wird kalt, man macht sich auf das Schlimmste gefasst. Zu viele dieser Filme hat man schon gesehen, effekthascherische Belanglosigkeiten, die sich vergeblich der Jugend anzubiedern versuchen, meist ausgedacht von Erwachsenen, deren Teenagerzeit schon Jahrzehnte zurückliegt.

Weg von den Pubertätsproblemen, hin zur Ernsthaftigkeit

Aber dann verfinstert sich das Szenario auf der Leinwand, weg von den reinen Pubertätsquerelen. Jameelah droht die Abschiebung, in der bosnischen Familie in der Nachbarschaft bahnt sich außerdem ein sogenannter Ehrenmord an. Der Film ist eine Falle, eine Falle im positiven Sinn. Er bleibt formal in der sauber abgezäunten Parzelle des Jugendfilms, aber er erzählt nicht von jungen Dingern, die beinahe in Schwierigkeiten geraten und dann, hui, wer hätte es gedacht, knapp entkommen. Mit einem blauen Auge und einer lehrreichen Moral. Nein, "Tigermilch" erzählt von einer richtigen Scheißsituation, aus der es kein Entkommen mit einfachen dramaturgischen Handlungstricks gibt.

Jameelah ist die Beste in Deutsch. Aber Jameelah wird abgeschoben werden, der Film endet nicht mit einer erfolgreichen Defloration, sondern mit einer 14-Jährigen, die mit ihrer Mutter von Polizisten in ein Flugzeug gezerrt wird. "Der Propagandafilm 2017", kommentiert einer den Trailer auf Youtube. Andere, Sechzehnjährige zum Beispiel, sagen, so würden sie nie reden. So sei der deutsche Film. Die deutsche Jugend. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Stefanie de Velasco, erschienen 2013. Das Buch beginnt mit Joseph von Eichendorffs Gedicht "In einem kühlen Grunde": "In einem kühlen Grunde /Da geht ein Mühlenrad;/Mein' Liebste ist verschwunden,/Die dort gewohnet hat." Die Autorin nimmt dieses über 200 Jahre alte Gedicht und entkitscht es, indem sie Eichendorff auf die Gegenwart anwendet: Die Liebste ist ein Mädchen aus dem Irak, der kühle Grund ein Plattenbau - und der Kummer bleibt der gleiche.

Gewiss wurden schon Abschiebungen im Kino gezeigt, aber in der Jugendfilmwelt waren sie meist etwas, das nur fast passiert, und dann folgte doch ein Happy End. Auch die Heldinnen in "Tigermilch" geben ihr Bestes, die Bombe tickt leise im Hintergrund, man vergisst sie zwischendurch beinahe. Die Abschiebung wird nicht zu einer exotischen Besonderheit stilisiert, die es im normalen Leben niemals geben würde, sondern sie widerfährt den beiden so natürlich wie Liebeskummer oder eine unbezahlte Handyrechnung.

Der Film ist oft hoffnungsvoll- selbst in den drastischen Szenen

Jameelah hat Angst vor Feuerwerk, erwähnt Nini beiläufig. Wo andere Filme dann eine siebenminütige Erklärszene mit Flashbacks und mindestens zwei verwundeten Kindern zeigen würden, belässt es die Regisseurin in "Tigermilch" dabei. Und erst irgendwann später fällt dem Zuschauer auf, dass Jameelah Angst vor Feuerwerk hat, weil sie vor dem Krieg geflohen ist. Es gibt keine eindeutigen Täter und keine eindeutigen Opfer. Der Grund für die Abschiebung ist am Ende ein vergessenes Formular. Dabei ist der Film oft lustig und hoffnungsvoll, sogar in den drastischen Szenen. Ihren ersten Sex haben die Mädchen schließlich mit zwei Freiern, im selben Raum auf zwei nebeneinander stehenden Betten. Während die Herren der Schöpfung auf dem Rücken liegend dem Höhepunkt entgegengrunzen, tauschen Nini und Jameelah konspirative Blicke aus, Verbündete in einer absurden Welt.

Tigermilch ist gerade kein typischer Film über soziale Probleme

Und das ist dann beinahe schon wieder romantisch; man liebt halt nicht immer den, auf dessen Genitalien man gerade sitzt. Tigermilch funktioniert, gerade weil er kein typischer Film über soziale Probleme ist. Viele Problemfilme führen selbst dann, wenn sie ästhetisch reflektiert und nicht tränendrüsig sind, und auch nicht auf Krassheitskitsch hinauslaufen, ihre Protagonisten wie eine fremde Spezies vor. Klar, ein Flüchtling, der in Calais im Schlamm sitzt und unbedingt nach England will, wird in vieler Hinsicht völlig anders denken als ein deutscher Teenager. Aber solange es einen gemeinsamen Lebensrahmen gibt, und den gibt es hier ja, kann so eine Perspektive auch in die Irre führen. Der Ausnahmezustand ist vielleicht für alle näher, als sie glauben. Weil sie das ahnen, kaufen sich die Leute ja auch SUVs, bauen "Gated Communitys" und Kindergärten, in denen das Essen Bio, aber die Badezimmerarmaturen antiseptisch sein sollen.

"Alles wird immer anders, obwohl man gar nicht will", sagt Jameelah. "Nein", antwortet ihr Nini, "alles bleibt immer gleich, wenn wir wollen. Wenn man erwachsen ist, dann kann immer alles so bleiben, wie man will." Nur erweist sich das leider als großer Irrtum.

Tigermilch, Deutschland 2017 - Regie, Buch: Ute Wieland, nach dem Roman von Stefanie de Velasco. Kamera: Felix Cramer. Schnitt: Anna Kappelmann. Mit: Flora Li Thiemann, Emily Kusche, Heiko Pinkowski, David Ali Rashed, Gisa Flake, Anna Büttner. Constantin, 106 Minuten.

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