Comic:Zum Leben erwacht

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Die Illustratorin Anke Kuhl erzählt die Geschichte des Golems in ihrem Comic neu, ohne auf die mythologischen Wurzeln einzugehen.

Von CHRISTOPH HAAS

Riesig ist er und verfügt über erhebliche Körperkräfte. Einen ausgewachsenen Baum reißt er einfach mal so aus dem Boden. Sicher auf den Beinen ist er aber nicht. Schon das Aufstehen bereitet ihm Schwierigkeiten. Die Knie drückt er durch; die Arme rudern; sein Gehen ist eher ein Stolpern. Mit seinem wuchtigen, plumpen Körper wirkt er wie eine überdimensionierte Ausgabe der Hefe-Weckmänner, die Mütter früher gern zu Nikolaus backten.

Das Material, aus dem er besteht, ist Lehm. Olli und Ulla haben ihn am Fluss geformt, und über Nacht ist er zum Leben erwacht. Er macht sich auf in die nahegelegene Stadt und stiftet dort ziemliches Chaos. Ein Friseur stellt ihn als Hilfe ein; wenn er einer Kundin die Haare wäscht, lösen sich prompt seine Hände auf. Im Supermarkt tobt er wütend herum und wirft eine Frau in hohem Bogen in die Fischtruhe. Schließlich sitzt er - wie einst King Kong auf dem Empire State Building - auf dem Dach des Rathauses. Polizei und Feuerwehr rücken an. Zum Glück wissen die beiden Kinder, was zu tun ist; sonst hätte es ein schlimmes Ende genommen.

Lehmriese lebt! ist eine burleske Gestalt, eine hier von Grusel und Gewalt befreite Variation der Golem-Sage, die ursprünglich der jüdischen Mystik entstammt. Das zentrale Motiv des Geschehens bildet hier die Ungeschicklichkeit des künstlichen Geschöpfes. Tapsig, naiv und unerfahren, wie er ist, bleibt der Lehmriese einerseits ein Fremder in der für ihn völlig rätselhaften Welt der Erwachsenen; andererseits ist er der große, gutmütige Freund und Beschützer, wie jedes Kind ihn sich heimlich herbeiwünscht.

Anke Kuhl hat schon zahlreiche Bilderbücher illustriert, darunter einige nach Versen von James Krüss. Lehmriese lebt! ist wohl auch eine Hommage an dessen Klassiker aus den Fünfzigern und Sechzigern. Die Zeit ist in diesem Comic ein wenig stehen geblieben. Spiele im Freien sind angesagt, keine Nintendos, und in der überschaubaren, von einer Mauer umzogenen Stadt gibt es Kopfsteinpflaster und wenig Autos. Wunderbar und poetisch ist die Belebung des Golems durch die vereinten Kräfte von Sonne und Erde, Wind und Wasser - da weitet die kleine, anheimelnde Welt sich für einen Moment plötzlich ins Kosmische. (ab 6 Jahre)

Anke Kuhl : Lehmriese lebt! Reprodukt Verlag 2015. 96 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 12.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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