Comic:Lob der Lücke

Comic: Unbarmherzig wie das Leben selbst läuft in der Erzählung "Kaltes Wasser" die Sequenz der Bilder ab.

Unbarmherzig wie das Leben selbst läuft in der Erzählung "Kaltes Wasser" die Sequenz der Bilder ab.

(Foto: Reprodukt)

"Eindringlinge" zeigt, dass ein schmaler weißer Streifen reichen kann, um emotionale Tiefe zu erzeugen.

Von Thomas von Steinaecker

Dick ist in. Zumindest in der Literatur, wo der beträchtliche Umfang nicht weniger Neuerscheinungen zum viel diskutierten Phänomen geworden ist. Erstaunlich ist ja nicht nur die Beharrlichkeit, mit der Autoren plötzlich die magische Marke von 1000 Seiten anpeilen, sondern auch, dass offenbar mehr und mehr Leser genau das wollen: den Wälzer. Aber eigentlich gehorcht dieser Trend einer sehr simplen Logik. Schwere Romane suggerieren buchstäblich Gewichtigkeit. Vor allem aber stellt sich bei der Lektüre in einer Epoche der Beschleunigung etwas ein, das im Alltag selten geworden ist: die Erfahrung von Dauer.

Im Comic gilt der Satz "size matters" schon seit Jahrzehnten, verdankt sich doch hier der bescheidene Boom zum größten Teil dem Begriff der Graphic Novel. "Heftchen", mit denen Comics einst abwertend gleichgesetzt wurden, verwandelten sich nun in "richtige" Bücher. Die Entwicklung, die dadurch in Gang gesetzt wurde, brachte nicht nur Gutes mit sich. Denn in Vergessenheit geriet darüber, dass die neunte Kunst vor allem eine der Kürze ist. In den ersten Zeitungsstrips standen den Zeichnern lediglich vier Bilder zur Verfügung. Um aber als Comic-Autor heute wahrgenommen zu werden, gehört es dazu, eine Graphic Novel vorzulegen.

Vor diesem Hintergrund liest sich die Karriere Adrian Tomines mustergültig: Nach drei Bänden mit "Stories", darunter sein internationaler Durchbruch "Sommerblond", galt er geradezu als Personifikation dessen, was den neuen, ernsthaften Comic-Künstler ausmacht. Die Stücke erzählten im Stil einer klassischen amerikanischen Kurzgeschichte lakonisch und realistisch von teenage angst und Einsamkeit. Der Vergleich mit großen US-Realisten wie Raymond Carver war da schnell bei der Hand. Außerdem konnte Tomine einfach verflucht gut zeichnen. Seine an Daniel Clowes geschulten melancholischen urbanen Landschaften und die Jugendlichen darin sahen hinreißend cool aus, auch wenn es sich bei ihnen durchweg um ziemliche Unsympathen handelte. 2007 folgte, was zu erwarten war: eine Graphic Novel. Doch was auf kurzer Strecke so gut funktioniert hatte, wurde in "Halbe Wahrheiten" zum Problem. So stylisch die schwarz-weißen Panels auch aussahen, so unterentwickelt blieb die Story. Nach einem nur halbwegs witzigen "Memoire" über seine Hochzeitsvorbereitungen schien Tomine eines jener Talente geworden zu sein, die am Ende doch nicht ganz das erfüllen konnten, was man sich von ihnen erhofft hatte.

Tomines neuester Band "Eindringlinge" erscheint da wie ein Befreiungsschlag. Obwohl jede der sechs "Erzählungen" stilistisch andere Wege geht, wirkt das nicht wie ein Ausprobieren, sondern wie der souveräne Neubeginn eines Künstlers, der sich nun seiner Mittel ganz sicher geworden ist: Mal wird im Stil eines Zeitungscomics erzählt, mal ohne Sprechblasen, mal klassisch in Tomines bekanntem klaren, realistischen Strich, den er zum ersten Mal dezent koloriert hat. Freilich begegnen einem hier immer noch dieselben Loser, die man aus seinen früheren Werken kennt; nur sind sie - wie ihr Autor - älter geworden und haben feste Beziehungen, was sie allerdings nicht unbedingt zufriedener oder gar weiser gemacht hat.

Etwa die Hauptfigur in "Eine kurze Geschichte der 'Hortiskulptur' genannten Kunstform", ein dicklicher Gärtner, der mehr erreichen will im Leben, als Hecken zu schneiden. Bedauerlicherweise wird aber durch seine hässlichen Pflanzenskulpturen sein mangelndes Talent für alle nur zu deutlich, außer für ihn selbst, so dass er durch seinen übersteigerten Ehrgeiz sogar das aufs Spiel setzt, was eigentlich sein größter Schatz ist, seine intakte Familie. Oder jenes Mädchen in "Amber Sweet", das sich fragt, warum es im College von den Jungs immer so merkwürdig angeschaut wird, bis es herausfindet, dass es eine Doppelgängerin hat, eine Pornodarstellerin. Kein Wunder, dass es von da an bei Beziehungen eine gewisse Paranoia entwickelt.

Tatsächlich schafft es Tomine bei aller stilistischen und erzählerischen Brillanz nur in zwei Geschichten, sein altbekanntes Personal aus egozentrischen Losern, bei denen einen oft das ungute Gefühl beschleicht, sie würden vorgeführt, gänzlich hinter sich zu lassen. "Übersetzt aus dem Japanischen" ist eine Übung in Komplexität auf engstem Raum. Auf acht Seiten sehen wir wortlose Ansichten einer Reise von Japan nach Kalifornien; erst der Begleittext in Form eines Briefes macht klar, worum es sich handelt: Eine japanische Mutter besucht nach einer Beziehungskrise mit ihrer kleinen Tochter deren amerikanischen Vater und erzählt ihr viele Jahre später davon. Wunderbar, wie sich hier Bild und Text auf eine neue, selten so gesehene Art und Weise ergänzen, etwa wenn die Ich-Erzählerin von einem anderen Leben mit einem der Fluggäste träumt und wir dabei nur das Flugzeug von außen sehen. Alles hier ist buchstäblich "in der Luft".

Den Höhepunkt der Sammlung stellt aber "Kaltes Wasser" dar. Auf 22 Seiten träumt eine von Komplexen belastete 14-Jährige, die noch dazu stottert, ausgerechnet von einer Karriere als Stand-up-Comedian. So unbeholfen ihr Vater darauf reagiert, so einfühlsam geht ihre Mutter mit der vorprogrammierten Katastrophe um. Und ebenso unbarmherzig wie das Leben selbst läuft währenddessen die Sequenz der Bilder ab, fast immer briefmarkengroß und mit stets der ähnlichen klaustrophobischen Nahansicht einer Figur - bis dann plötzlich ein Panel fehlt. Nur langsam realisieren wir: Die Mutter, die zuvor ihr Haar verlor, ist an Krebs gestorben; und plötzlich zeigt sich die gesamte Handlung und das seltsam verzweifelte Verhalten der Figuren in neuem Licht. Wenn am Ende Vater und Tochter zueinanderfinden, gelingt Tomine, recht untypisch für ihn, ein versöhnliches Ende, das tief bewegt. Nicht zufällig bezeichnete kein anderer als Chris Ware diese Geschichte als einen der Höhepunkte der neunten Kunst.

So zeigt "Eindringlinge" auf geradezu beispielhafte Weise, was in Comics heute möglich ist - und dass es für die Lektüreerfahrung von Dauer und in diesem Fall auch emotionaler Tiefe manchmal nicht mehr als eines schmalen weißen Streifens bedarf. Die Lücke zwischen zwei Bildern.

Adrian Tomine: Eindringlinge. Aus dem Englischen von Björn Laser. Reprodukt Verlag, Berlin 2016. 120 Seiten, 24 Euro.

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