Claude Lévi-Strauss wird 100:Der-mit-dem- Weltverstand

Inzwischen ist er selbst ein Kultobjekt: Zum 100. Geburtstag des großen französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss.

Th. Hauschild

Das wuchtige "American Museum of Natural History" in New York ist das letzte seiner Art. Hier wird die Geschichte der amerikanischen Indianer erzählt, nicht als verlogene Legende, nicht als ästhetische Inszenierung, nicht als mit Objekten bestücktes Buch, sondern durch indianische Gebrauchsgegenstände und Kunst hindurch.

Claude Lévi-Strauss wird 100: Ein sehr fragiler kleiner Herr: Anthropologe Claude Lévi-Strauss wird sagenhafte 100 Jahre alt.

Ein sehr fragiler kleiner Herr: Anthropologe Claude Lévi-Strauss wird sagenhafte 100 Jahre alt.

(Foto: Foto: afp)

Die indianischen Gesellschaften lebten zwar das klimaabhängige riskante Leben aller Wildbeuter, waren aber durch den enormen Reichtum an Fisch und zum Beispiel Kupfer vielen Inlandsstämmen, punktuell auch den Weißen überlegen.

Doch erst Claude Lévi-Strauss, dessen 100. Geburtstag wir heute feiern, sollte es gelingen, den Bildungsschichten aller fortgeschrittenen Industriestaaten zu vermitteln, dass die Kunst, die Zeremonialobjekte, die Gebrauchsgegenstände und Erzählungen der Ureinwohner vom nördlichen Pazifik untrennbar mit einem Begriff zu verbinden sind, der bis dahin nicht für Indianer vorhergesehen war, die in Decken umhergingen und Kopfjagd betrieben, mit einem Begriff, der allen Klein- und Großbürgern der westlichen Industriegesellschaften so heilig und "tabu" ist: mit dem Wort "Kultur".

Das Menschsein

Informiert durch die großen Sozialanthropologien wie durch die formalistische Literaturwissenschaft und die biologische Kommunikationsforschung seines Zeitalters, begann Lévi-Strauss, eine Art Turboversion von Franz Boas' ökologisch-geographischer Kulturanthropologie der Indianer zu entwickeln.

In einer direkten, theoretisch durchdachten Sprache, die der vorsichtige Boas vermieden hatte, ging es nun um Grundfragen der Anthropologie, um die Grenzen und Möglichkeiten des Menschseins in sehr wechselhaft günstigen und ungünstigen Umwelten, um den quälenden welthistorischen Gegensatz zwischen "heißen", sich schnell "entwickelnden" Gesellschaften und "kalten" traditionalen Ethnien.

Wo liegt die Wertigkeit von Einzelkulturen im Vergleich, wie verbindet man Universalismus und Relativismus, jene beiden großen Errungenschaften westlicher Kulturanalyse? Claude Lévi-Strauss hat sich bei all dem Einfluss, den sein Denken auf die gesamten Human- und Kulturwissenschaften entwickeln sollte, stets im engen Sinne des Wortes als völkerkundlicher Amerikanist verstanden.

Parallel zu seinen brasilianischen Erfahrungen bezog er massiv ethnographisches Material der nordamerikanischen Gesellschaften in seine weit gespannten Theoriekonstruktionen ein. Die Rache der Vergangenheit, die amerikanischen Indianerkriege, prägten so letztlich auch französische und deutsche Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft der sechziger bis neunziger Jahre.

Neue Theorie der Kultur

Claude Lévi-Strauss war Tischnachbar von Franz Boas, als dieser am 21. Dezember 1942 bei einem Bankett zu Ehren des ebenfalls vor dem Nazis geflohenen Paul Rivet verstarb. In diesem Moment hatte er bereits das Konzept einer die Grenzen des amerikanisch-deutschen kulturellen Relativismus weit überschreitenden neuen Theorie der Kultur vor Augen.

Der erste Schlag war sein 1949 erschienenes Buch über die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Hingen damals noch viele Ethnologen der Illusion an, dass kulturspezifische Verwandtschaftssysteme jede ethnische Gemeinschaft mit einem Netz fester Verpflichtungen strukturieren, sieht Lévi-Strauss Verwandtschaftsterminologien als Ergebnis ständiger Kompromisse zwischen der universalen menschlichen Lust am Klassifizieren und spezifischen sozialen Anforderungen.

"Verwandtschaftsatome" aus Vater/Mutter/Kind und den Geschwistern der Eltern, so titelt Lévi-Strauss, der darin selbstbewusst dem Zeitgeist des "Atomzeitalters" folgt, stehen im Kern der Organisation von Abstammung und Heirat. Aber die spezifischen Haltungen der Verwandten zueinander ergeben sich nicht zwangsläufig aus den oft weit von europäischen Gewohnheiten abweichenden Formen der Benennung und Anrede in außereuropäischen Gesellschaften.

Diese Erkenntnis ist auch heute noch lehrreich, zum Beispiel wäre sie gut für die deutschen und französische Debatten über den angeblich in "der Kultur" orientalischer Zuwanderer zwingend gebotenen "Ehrenmord".

Doch nicht nur als soziologischer Theoretiker betritt der 40-Jährige die Arena der nach dem Weltkrieg wiederbelebten internationalen Anthropologie, er ist auch einer ihrer großen Psychologen. In wegweisenden Aufsätzen über Schamanismus und magische Heilung etabliert er bereits das neurologische und hirnforscherische Paradigma vom klassifikationswütigen Homo sapiens - hier als Heiler von Abweichung und Krankheit, der entweder als Psychoanalytiker seine Patienten dazu bringt, ihre neurotische Privatsprache an das allgemeingültige Sprachsystem anzupassen, oder als Schamane den Kranken die sprachliche Ordnung der Normalität so lange vorführt, bis sie vielleicht wirklich gesunden.

Lesen Sie auf Seite 2, warum das Werk von Claude Lévi-Strauss Potential für die Zukunft hat.

Der-mit-dem- Weltverstand

Bald wird Lévi-Strauss nach Paris berufen und steigt dort zum Wissenschaftsstar und professoralen Baron der Forschung auf. Aus dem "Mann der nicht spricht" (Simone de Beauvoir), aber stets brav zu den Existenzialistentreffen trottete, ist ein Meisterdenker des Collège de France und der Akademie geworden.

Doch der in New York ge- und erfundene große Kompromiss zwischen neurologischem Universalismus und der Analyse landschaftsspezifischer Ökologien des Geistes bleibt zentral für sein Werk. Und darin birgt sich immer der surrealistische Ansatz: das von den bürgerlichen Intellektuellen verachtete ethnographische Material zur Dignität hoher Kultur zu erheben.

Seiner grandiosen Übersicht des "wilden Denkens" gibt er ein Motto aus Balzacs "Antiquitätenkabinett" bei: "Niemand ist in seinen Berechnungen so genau wie die Wilden, die Bauern und die Provinzler; wenn sie vom Gedanken zur Wirklichkeit kommen, ist daher alles schon fertig."

Lackmustest der Ethnographe

Mythos oder Märchen, Legende oder Sage, wissenschaftliche Spurensicherung und selbst die mathematischen Formeln, deren der Schüler des russischen Formalisten Roman Jakobson sich gekonnt bildhaft zu bedienen weiß, sind demnach sämtlich "Folklore", Erzählungen, die sich beim Kontakt mir Realitäten mehr oder weniger gut bewahrheiten.

Alle großen Errungenschaften, deren sich die westlichen Zivilisationen rühmen, werden von Lévi-Strauss durch den Lackmustest der Ethnographe gejagt und kehren dann aufs Podest zurück, bereichert, zerzaust und in ihrer Einmaligkeit gekränkt, aber auch nicht in Grund und Boden kritisiert, wie wir es heute gewohnt sind: die hohe Literatur ("Mythologica", 1964-1971), Wirtschaftsleben und Landschaftsplanung ("Traurige Tropen", 1955), Klangkunst und Malerei ("Sehen, Hören, Lesen", 1993), Ökonomie, Technologie und Medizin ("Strukturale Anthropologie" I und II, 1958, 1975).

Dass dieses Werk nicht noch wuchtiger in den heutigen interdisziplinären Forschungslandschaften nachwirkt, ist der gegen und mit Lévi-Strauss' "Strukturalismus" benannten "poststrukturalistischen Wende" zu verdanken.

Eine ganze Generation von Ethnologen verschwand in den achtziger Jahren hinter selbstkritischem Postkolonialismus, hinter dem Reproduzieren vermeintlich häretischer "Stimmen" aus allen Kulturen der Welt. Aber heute kommen Lévi-Strauss' rationelle und phantasievolle Synthesen wieder in Mode.

Coffetable-Lektüre

Anstelle von exzessiver (Selbst-)kritik ist in der Krise der nationalen Staaten und der globalen ökonomischen Netzwerke wieder Orientierungswissen gefragt. In manchem Absatz der "Mythologica", in mancher Fußnote der beiden monumentalen Bände zur "strukturalen Anthropologie" stecken noch hohe Potentiale einer künftigen weltweit vergleichenden Anthropologie. Man könnte spielend das Programm ganzer deutscher akademischer "Exzellenzcluster" daraus stricken.

Solche Potentiale gut bebildert, gut erzählt als coffeetable-Buch zu entfalten, ist bisher nur Claude Lévi-Strauss gelungen. Der direkte Anschluss des immer außereuropäischen und alteuropäischen ethnographischen Materials an die Moderne, mit all ihren Kommunikationstheorien, Soziallehren und Hirnphysiologien, lag ihm am Herzen.

Nun, wo "der Lévi-Strauss", dieses Monument, das zugleich doch auch nur ein sehr fragiler kleiner alter Herr ist, schon sagenhafte 100 Jahre alt geworden ist, soll er darum bitte noch ein bisschen weitermachen. Denn Lévi-Strauss' Synthesen zwischen Hirnphysiologie, Geographie und Kulturwissenschaft haben sich als haltbar erwiesen.

Heute, wo es für die Ethnologie und alle anderen Kulturwissenschaften in einem als multikulturell problematisch, staatsverschuldet und globalisierungsgeschädigt erkannten Deutschland und Europa wieder mal ums Ganze zu gehen scheint, bilden die strukturalen Synthesen der sechziger Jahre einen Ausblick auf die ganze Breite einer öffentlichen Anthropologie, Reserve und Potential für die Zukunft zugleich.

Der Autor ist Professor für Ethnologie an der Universität Tübingen. Im Frühjahr erschien bei Suhrkamp sein Buch "Ritual und Gewalt".

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